Gregor Gysi genießt die Aufmerksamkeit der Medien, die sich seit seiner Erklärung, für die PDS erneut als Spitzenkandidat zur Bundestagswahl anzutreten, wieder vermehrt auf ihn richtet. Wie sollte er auch nicht? Ausschließlich ihm wird zugetraut, das notwendige dritte Bundestagsmandat in Berlin zu holen, und zwar im wald- und wasserreichen Wahlbezirk Köpenick-Treptow, dem Grunewald des Ostens, wo die PDS noch nie die Mehrheit der Erststimmen gewonnen hat. Er allein kann der Partei bundesweite Aufmerksamkeit sichern, mit ihm stehen und fallen die Chancen für eine Partei links von der SPD. Es ist nicht einmal völlig auszuschließen, daß sein Einsatz das Ergebnis der Bundestagswahlen durcheinanderwirbelt und alles anders kommt, als heute prognostiziert wird. Auch weniger eitle Menschen würden solche Beweise ihrer eigenen Unersetzlichkeit beeindrucken. Er gehört – ähnlich wie Michel Friedman – zu jenen Leuten, die sich erst vollständig fühlen, wenn sie ihr Bild in den Medien verdoppelt haben. Der grelle Medienschein bildet den Ersatz für ihren verkauften oder anderweitig abhanden gekommenen Schatten. Das ist das eine. Droht zwischen Gysi und Lafontaine ein Zickenkrieg? Gysi ist außerdem politiksüchtig, und sein Herz schlägt tatsächlich links. Die Möglichkeit, durch ein Wahlbündnis mit Oskar Lafontaine und der Wahlalternative Arbeit und Soziale Gerechtigkeit (WASG) perspektivisch eine Partei links von der SPD zu plazieren und damit langfristig der PDS das Überleben zu sichern, ist zur Zeit größer denn je. Es ist nachzuvollziehen, daß er dieser Verlockung nicht widerstehen kann. Trotzdem liegt über Gysis Auftritten eine unübersehbare Melancholie. Seine Schlagfertigkeit, sein rhetorisches Talent funktionieren wie eh und je, doch ihr Glanz ist matter als vor fünfzehn, zehn oder noch vor drei Jahren. Zwei Herzinfarkte, eine schwere Hirnoperation, eine lange Phase der Rehabilitation haben ihm die eigene Gefährdung und Endlichkeit bewußt gemacht. Man hörte von ihm zuletzt nachdenklichere Töne als früher. Während seine Partei in Berlin dem Religionsunterricht den Garaus macht, sinniert er in öffentlicher Rede über die eigene Religiosität. Seine politischen Aktivitäten hatte er drastisch zurückgeschraubt und sich auf das Verfassen von Kolumnen, auf die Anwaltskanzlei und auf seine Familie konzentriert. Vor neun Jahren war der jetzt 57jährige nochmals Vater geworden. Bevor er in den Boxring der Tagespolitik gestiegen ist, hat er lange gezögert. Er weiß um das persönliche Risiko, das er eingeht. Er will sich nicht mehr zum Sklaven der Politik machen. Gysi ahnt wohl, daß seinen und den Erfolgsaussichten seiner Partei etwas Geisterhaftes anhaftet. Vor kurzem hat er eingestanden, daß die Westausdehnung der PDS endgültig gescheitert ist. Nicht einmal in Berlin schafft sie den Sprung über die imaginäre Mauer. Im Osten erreicht sie vierzig Prozent, im Westteil nur ein Zehntel davon. Wie soll das Bündnis einer Ostpartei mit der disparaten, unkalkulierbaren WASG – wenn es denn zustande kommt – praktisch funktionieren? In der WASG versammeln sich Leute, die glauben, die Wurzel aller Probleme sei die Wiedervereinigung. Auch Lafontaine hatte 1990 deutlich gemacht, daß ihm die ganze Richtung nicht paßte. Apropos: Werden die zwei roten Primadonnen friedlich koexistieren, oder steht ein Zickenkrieg wie zwischen Naddel und Verona bevor? Weiterhin: Gysis und die Kandidatur des inzwischen 63 Jahre alten Parteivorsitzenden Lothar Bisky, der ebenfalls aus dem Vorruhestand geholt werden mußte, zeigt, daß der Generationswechsel in der PDS mißlungen ist. Nach 15 Jahren sind die beiden Kämpen Bisky und Gysi noch immer die einzigen präsentablen Führungsfiguren. Hat außerhalb Brandenburgs schon jemand etwas von der Fraktionschefin im Potsdamer Landtag, Dagmar Enkelmann, gehört, die auch stellvertretende Bundesvorsitzende ist? Höchstens, daß sie vor zehn Jahren zur schönsten Frau des Bundestags gewählt wurde. Doch der gute Eindruck, den die 48jährige Blondine macht, dauert exakt nur so lange, wie sie den Mund hält. Neue Mitglieder sind für die PDS nicht in Sicht Der sächsische PDS-Fraktionschef Peter Porsch macht nur von sich reden, wenn es um Stasi-Angelegenheiten geht – um die eigenen. Der Rest besteht aus Pionierleiterinnen, FDJ-Sekretären und drögen Funktionären. Die Europaabgeordnete Sahra Wagenknecht, 35, von der Kommunistischen Plattform ist ebenfalls kein Lichtblick. Die Gesichtszüge der Möchtegern-Luxemburg sind scharf geworden, ihr Stakkato noch härter – sie ist die Wiedergängerin der keifenden Hilde Benjamin. Und vor allem: Der PDS stirbt die Basis ist weg. Die rüstigen Rentner, die sich vor Jahren noch darum rissen, für die Partei ehrenamtlich Plakate zu kleben und Faltblätter zu verteilen, sind ins Greisenalter eingetreten und neue Mitglieder nicht in Sicht. Wenn die PDS in den Bundestag einzieht und Gysi zum Fraktionschef wählt, was kann er dort bewirken? Er wird sich als die Stimme des Ostens profilieren, der dem Westen ein schlechtes Gewissen zu bereiten versucht, gewiß. Aber selbst im hintersten mitteldeutschen Winkel hat sich herumgesprochen, daß der Westen selber ein wankender Riese ist. Wenn er fällt, begräbt er den Osten unter sich. Also darf man ihn nicht zusätzlich noch irritieren und reizen. Das muß auch Gysi beachten und wird seinen Sarkasmus bremsen, was wiederum seine Außenwirkung beeinträchtigt. In Sachen Sozialpolitik und „Gerechtigkeit“ wird er mit der schrillen SPD-Frau Andrea Nahles konkurrieren müssen. Und was heißt denn überhaupt „Sozialabbau“ in einem Land, wo der Sozialstaat die Grundlagen, auf denen er beruht: die Wirtschaft und die Staatsfinanzen, im Begriff ist zu erdrosseln? Wenn Gysi sich letztens in der Talk-show von Sabine Christiansen über die These mokierte, daß Steuersenkungen für Konzerne und gleichzeitige Kürzungen von Löhnen und Sozialleistungen für neue Arbeitsplätze sorgen, kann man ihm sogar zustimmen. Aber seine Insinuation, daß die Wahrheit und die Rettung im Gegenteil liegen, ist ebenfalls unbewiesen. Man konnte bei dieser Gelegenheit schön beobachten, wie Gysis Rhetorik inzwischen an ihre Grenzen stößt. Seine aphoristische Argumentation hatte noch nie komplexe Probleme veranschaulicht, sondern Einzelfragen aus ihren Zusammenhängen gelöst und so sehr simplifiziert, daß die Lösung ganz einfach erschien und Gysi, indem er als erster auf sie verfiel, einen billigen Triumph erreichte. Weil inzwischen jeder den Ernst der Lage begriffen hat, ist der Unterhaltungswert solcher Taschenspielertricks begrenzt. So konnten ein ungewohnt entspannt wirkender Wolfgang Clement und sein CDU-Widerpart Friedrich Merz sich mit einem nachsichtigen Lächeln begnügen. Gysi ist intelligent genug, um das Nachlassen des Gysi-Faktors zu registrieren. Auch das mag eine Quelle seiner Melancholie sein. Vor knapp drei Jahren hatte er sich selbst als Wirtschaftssenator in Berlin versucht, um bei nächstbester Gelegenheit aus dem Amt zu flüchten, das ihm über den Kopf gewachsen war. An diese Fahnenflucht wird man ihn erinnern, wenn er im Bundestag über einen, sagen wir, Superminister Edmund Stoiber zu laut lästert. Gysi weiß, daß es für ihn schwer wird. Man wird ihm vorhalten, daß die PDS in zwei Bundesländern mitregiert, ohne einen alternativen Politikansatz zustande gebracht zu haben. In Berlin stellt die PDS die Senatoren für Wirtschaft, Soziales und Kultur, trotzdem sind Wirtschaftskrise, Sozial- und Kulturabbau überall mit Händen zu greifen. Gysi spiegelt die ärmliche Verfassung der Linken wider In Mecklenburg-Vorpommern wirkt der PDS-Mann Helmut Holter als Arbeitsminister und stellvertretender Ministerpräsident. Sein Rezept gegen die Jugendarbeitslosigkeit, nachdem die ABM-Programme den Landeshaushalt zum Bersten gebracht haben? Hunderte junge Facharbeiter, Handwerker, Installateure sollen zur Arbeitssuche nach Skandinavien gehen, die Landesregierung fördert mit einer Million Euro die Vorbereitungs- und Sprachkurse. Das Programm wendet sich an die Klügeren, Fleißigen, Ordentlichen, an die potentielle Mittelschicht, die in jeder Gesellschaft das Stabilitätskorsett bildet. Zurück bleiben die Problemfälle, die schwer Sozialisierbaren. Ist das die gesellschaftspolitische Perspektive, die der PDS vorschwebt? Nur am Rande: Wie kann die PDS unter diesem Umständen behaupten, Deutschland habe Dritte-Welt-Einwanderer nötig, „um unsere Renten zu sichern“? Kein rhetorischer Winkelzug Gysis wird ausreichen, um sich und seine Partei aus den Fallstricken solcher Widersprüche zu befreien. Politisch ist er längst ein Zombie, ein unterhaltsamer zwar, aber ein Zombie. Was muß man noch mehr sagen über die innere Verfassung einer Linken, die ihn erneut zur Galionsfigur erhoben hat? Foto: Gregor Gysi auf dem PDS-Bundesparteitag 2004 in Potsdam: Sein Glanz ist matter als vor fünfzehn, zehn oder noch vor drei Jahren Gregor Gysi: Der heutige PDS-Politiker und Rechtsanwalt wurde 1948 als Sohn des späteren DDR-Kulturministers Klaus Gysi in Berlin geboren. Nach einer Lehre als Facharbeiter für Rinderzucht studierte er Jura an der Humboldt-Universität. Seit 1967 SED-Mitglied, wurde er im Dezember 1989 Vorsitzender der SED/PDS. Von 1990 bis Anfang 2002 gehörte er dem Deutschen Bundestag an, davon die längste Zeit als Vorsitzender der PDS-Gruppe bzw. der Fraktion. Von Januar bis Juli 2001 war er zugleich Berliner Wirtschaftssenator in der SPD/PDS-Koalition. Entgegen der Feststellung des Immunitätsausschusses des Bundestages vom Mai 1998 bestreitet Gysi bis heute, Inoffizieller Mitarbeiter („IM Notar“) des Ministeriums für Staatssicherheit der DDR gewesen zu sein. (JF)