Der Wahlkampf im bevölkerungsreichsten deutschen Bundesland ist eröffnet. Am Wochenende stimmten SPD und CDU ihre Anhänger mit großen Auftaktveranstaltungen – deren Inszenierung dem amerikanischen Präsidentschaftswahlkampf nachempfunden war – auf den mit Spannung erwarteten Urnengang am 22. Mai ein. In der Dortmunder Westfalenhalle rief Ministerpräsident Peer Steinbrück (SPD) vor 8.000 Anhängern seine Partei, der erstmals seit 39 Jahren der Verlust der Regierungsverantwortung droht, dazu auf, um die Mehrheit im Düsseldorfer Landtag zu kämpfen. Unterstützung erhielt er dabei von Bundeskanzler Gerhard Schröder. Der CDU-Kandidat Jürgen Rüttgers warnte die Union im Beisein der Parteichefin Angela Merkel und des CSU-Vorsitzenden Edmund Stoiber vor 10.000 Anhängern in Oberhausen davor, die Wahl schon als gewonnen anzusehen. Aktuellen Umfragen zufolge liegt Schwarz-Gelb (52 Prozent) deutlich vor Rot-Grün (43 Prozent). Während es am Wochenende in den Wahlkampfreden hauptsächlich um Arbeitslosenzahlen und Wirtschaftsthemen ging, rückt wenige Wochen vor den Landtagswahlen in Nordrhein-Westfalen die zahlenmäßig starke türkischstämmige Minderheit, die insbesondere in den Städten an Rhein und Ruhr lebt, immer mehr in den Mittelpunkt. Kernpunkt der Diskussionen ist die Frage, wie verhindert werden kann, daß eingebürgerte Türken, die ihre deutsche Staatsbürgerschaft wieder verloren haben, an den Wahlen teilnehmen. Denn das neue Staatsbürgerschaftsrecht aus dem Jahre 2000 sieht vor, daß Neubürger, die rechtswidrig ihre alte Staatsbürgerschaft wieder angenommen haben, ihren deutschen Paß automatisch verlieren (JF 13/05). Mit Bezug auf die bevorstehende Wahl in NRW bedeutet das, daß bei einem knappen Wahlausgang Türken, die keine deutsche Staatsbürgerschaft mehr haben, aber dennoch in den Wählerverzeichnissen stehen, die Rolle eines „Züngleins an der Waage“ spielen – und in diesem Fall dem Unterlegenen einen Grund dafür liefern könnten, das Votum der Wähler insgesamt anzufechten. Um das zu verhindern, wird nun versucht, die Besitzer des illegalen Doppelpasses dazu zu bewegen, sich den deutschen Behörden zu stellen. Denn diese haben ein Problem: Sie wissen nicht, wer von den eingebürgerten Türken sich seine alte Staatsbürgerschaft zurückgeholt hat. In einem ersten Schritt wurde daher bereits vor einigen Wochen in mehreren Ruhrmetropolen auf den Ordnungsämtern und Meldestellen durch Anschläge an alle „Doppelpäßler“ appelliert, sich unverzüglich bei den Behörden zu melden. Dort sollen die deutschen Dokumente vernichtet und damit eine Teilnahme an der Landtagswahl unmöglich gemacht werden. Der Erfolg war bislang äußerst bescheiden: Gerade einmal eine Handvoll Personen meldete sich bei den Ämtern in Köln, Düsseldorf, Duisburg, Dortmund und Essen. Nun wollen die Ordnungsämter in einem zweiten Schritt per Brief alle nach dem 1. Januar 2000 eingebürgerten Türken – in Duisburg etwa 10.000, in Köln 7.000 und in Essen rund 2.000 – darauf hinweisen, daß sie sich der Wahlfälschung schuldig machten, wenn sie an der Wahl teilnehmen, obwohl sie sich ihren alten Paß zurückgeholt haben. Zudem sollen in den Wahllokalen Warnungen ausgehängt werden. Gleichzeitig wird der Druck auf die türkischen Behörden erhöht, um diese zur Abgleichung der Daten von Personen zu bewegen, die trotz deutscher Staatsangehörigkeit in den letzten Jahren auch einen türkischen Paß beantragt haben. Die türkischen Behörden weigern sich jedoch bislang, dieser Aufforderung nachzukommen. Vertreter türkischer Verbände in Deutschland hegen unterdessen Zweifel an der Ernsthaftigkeit der von deutscher Seite eingeleiteten Maßnahmen. Nach ihren Angaben wäre es für deutschen Behörden ohnehin gar kein Problem, Personen, die nach dem Erhalt des deutschen Passes auch die türkische Staatsbürgerschaft beantragten, zu ermitteln: Es gebe in der Türkei eine für jedermann einsehbare Zeitung, in der alle Eingebürgerten mit vollem Namen aufgeführt würden. Die deutschen Behörden könnten diese Daten abgleichen. Zudem wird von türkischen Vertretern in Deutschland gemutmaßt, daß die aktuelle Diskussion um dieses Thema – ebenso wie die seinerzeitige Neuregelung der Verleihung der deutschen Staatsangehörigkeit – lediglich parteipolitischem Kalkül dient. Nach den Erfahrungen auf Kommunal-, Landtags- und Bundestagsebene der letzten beiden Jahrzehnte neigen eingebürgerte Personen mit ausländischer Herkunft überdurchschnittlich stark zur Wahl der SPD und – in etwas geringerem Maße – zur Wahl der Grünen. Daher hätte die derzeitige Landesregierung gar kein größeres Interesse daran, eine Klientel, die ihr letztlich entscheidende Stimmen bescheren könnte, wenige Wochen vor der Wahl an der Teilnahme zu hindern. Dies manifestiere sich auch darin, daß Innenminister Fritz Behrens (SPD) ausdrücklich an die Ausländerbehörden appelliert habe, bei Personen mit illegalem Doppelpaß eine Wiederaufnahme der deutschen Staatsangehörigkeit innerhalb weniger Tage „wohlwollend zu prüfen“ und damit eine legale Teilnahme an der Landtagswahl „zu ermöglichen“.
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