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Die späte Rache der Geschichte

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Am 30. September meldete die Financial Times, daß drei ölreiche Provinzen im Süden des Irak – nach dem Vorbild der Kurden – eine autonome Region bilden wollen. Politiker aus Basra hätten bereits Gespräche mit den Nachbarprovinzen Missan und Dhikar aufgenommen. Initiator sei der Schiitenführer Mutaka al-Sadr. Dies könnte „den Staat schwächen und eventuell zu einer Zersplitterung des Landes führen“, zitierte das Londoner Blatt den „Irak-Experten“ Walid Khadduri. Doch der Irak wird zerfallen – denn die Rache der Geschichte kommt oft erst nach Jahrzehnten. Nach dem Ersten Weltkrieg entschieden die Sieger, die Doppelmonarchie Österreich-Ungarn zu zerschlagen, in der über ein Dutzend Völker vergleichsweise friedlich zusammenlebten. Doch die Tschechoslowakei umfaßte nicht nur Tschechen und Slowaken, sondern auch Deutsche, Ungarn, Ruthenen und Polen. Das Königreich der Serben, Kroaten und Slowenen (SHS-Staat, ab 1929 Jugoslawien) „vergaß“ im Staatsnamen die Mazedonier, Albaner, Montenegriner, Ungarn und Deutschen. Zudem durchschnitten den Kunststaat die Kultur- und Religionsgrenzen zwischen Katholiken, Orthodoxen und Muslimen. Acht Jahrzehnte später leben Tschechen, Slowaken, Slowenen und Kroaten in gesicherten eigenen Staaten – trotz des internationalen Drucks, die Ordnung von 1919/1945 beizubehalten. Die meisten US-Politiker haben die Dynamik dieser Urkraft nie verstanden. Der damalige Außenminister James Baker hielt 1990 im Belgrader Parlament eine Rede, in der er leidenschaftlich für den Erhalt Jugoslawiens eintrat – zu einem Zeitpunkt, in dem der Zerfall des künstlichen Bundesstaates schon jedem sichtbar geworden war. Dieses Unverständnis der Amerikaner für die Kraft der ethnischen oder religiösen Zusammengehörigkeit wiederholt sich jetzt im Irak. Auch das Osmanische Reich – in dem die Christen zeitweise übrigens mehr Religionsfreiheit besaßen als in der heutigen Türkei – wurde nach dem Ersten Weltkrieg in mehrere künstliche Staaten- oder Pseudostaatengebilde zerlegt. Ein Nachfolgestaat des Osmanischen Reiches war der Irak, der 1920 unter britischer Oberhoheit aus den Provinzen Mosul, Bagdad und Basra gebildet wurde. Auf der Kairoer Konferenz 1921 wurde der Sohn des Scherifen von Mekka als Faisal I. zum irakischen König bestimmt. 1932 wurde der Irak offiziell unabhängig und in den Völkerbund aufgenommen. Doch der Kunststaat war von Anfang an instabil. Die modernen städtischen Verwaltungszentren waren durch sunnitisch-osmanische Araber geprägt, auf dem Land dominierte weiter eine archaische Stammesherrschaft das Leben. Im Norden übten die Kurden, die als einziges großes Volk der Region nach dem Ersten Weltkrieg ohne eigenen Staat geblieben waren, die faktische Macht aus. Die im Süden des Iraks lebenden arabischen Schiiten bildeten hingegen schon damals die Mehrheit im Irak. Die unterschiedlichen Volksgruppen (wozu auch die kleine Minderheit der Christen gehörte) sollte der – im Kampf gegen die türkisch-osmanischen Herrschaft entstandene – arabische Nationalismus zusammenhalten. Die Kurden waren davon schon durch ihre Sprache ausgeschlossen, die Schiiten lehnten den sunnitisch und zum Teil säkular geprägten „Panarabismus“ ab. Als Faisal I. 1933 starb und sein Sohn Ghazi I. auf den Thron kam, begann die Zeit der Militärputsche. 1939 wurde Ghazis minderjähriger Sohn Faisal II. König. Im April 1941 putschte das Militär erneut, die probritischen Regierungsmitglieder und Faisal II. wurden vertrieben. Premier Rashid Ali al-Kailani knüpfte Kontakte nach Berlin. Mit Hilfe britischer Truppen wurde die prodeutsche Regierung schon im Mai 1941 wieder gestürzt. Bis 1945 blieb der Irak britisch besetzt. 1958 putschte die Armee erneut – Faisal II. und seine Familie wurden erschossen. 1962 gab es den ersten großen Kurdenaufstand. Seit Anfang der sechziger Jahre wurden zudem Verhandlungen mit Syrien und Ägypten geführt, um die drei Ländern zu einer panarabischen Republik zusammenzuschließen. Das Scheitern der Union und der verlorene Sechstagekrieg gegen Israel 1967 führten 1968 zu einem erneuten Militärputsch. General Ahmad Hasan Al-Bakr wurde Präsident und die arabisch-sozialistische Baath-Partei zur Staatspartei. 1971 wurden die diplomatischen Beziehungen zu London und Teheran abgebrochen, 1972 ein Freundschaftsvertrag mit Moskau geschlossen. In den siebziger Jahren vollzog sich zudem die Spaltung der Kurden in zwei rivalisierende Parteien, die wechselnde Allianzen mit Ankara, Teheran oder auch Bagdad bildeten. Die schiitischen Religionsführer im Süden des Irak formierten die Opposition gegen das sunnitisch dominierte, „gottlose“ Baath-Regime. 1979 wurde Saddam Hussein, der die Geheimdienste und die Baath-Miliz kontrollierte, Staatschef. Wie al-Bakr war auch er ein sunnitischer Araber – der mit brutalsten Methoden den Staat und seine Macht zusammenhielt. 1980 überfiel der Irak den nach dem Sturz des Schah im Vorjahr geschwächten Iran. Ein erneuter Kurdenaufstand während des Krieges wurde vom Saddam-Regime mit Giftgas niedergeschlagen. Erst 1988 kam es zum Ende des Ersten Golfkrieges. 1990 besetzte der Irak Kuweit – was 1991 den Zweiten Golfkrieg auslöste. Eine Uno-Allianz unter Führung der USA vertrieb die irakischen Truppen wieder. Im Norden rief das kurdische Nationalparlament ein konföderiertes Kurdistan innerhalb des Irak aus. Ein schiitischer Aufstand wurde 1991 blutig niedergeschlagen. 2003 begann der Dritte Golfkrieg, der zwar die Schreckensherrschaft von Saddam Hussein beendete, aber weder die ethnischen noch die religiösen Probleme des Irak löste. Entgegen verbreiteten Klischees in Europa wurde schon vor dem Einmarsch in den Irak in US-Regierungskreisen, in den think tanks und in den Medien viel über die zukünftige Staatsform des Irak sinniert. Es war sogar die Rede davon, das angeblich von Lawrence von Arabien gegebene Wort einzulösen, den Haschemitenkönig von Jordanien auch über Mesopotamien herrschen zu lassen. Schließlich setzte sich aber die naive Bush-Doktrin durch, die sich den Aufbau von Demokratien in den muslimischen Ländern des Mittleren Osten – notfalls mit Waffengewalt – zum Ziel setzte. Der Irak sollte eine föderale Demokratie werden. In jedem Fall aber sollte das Prinzip der Unantastbarkeit bestehender Grenzen gelten. Daß das aus dem Westfälischen Frieden von 1648 abgeleitete Völkerrecht unter dem explosiven Druck der Autonomiebestrebungen ethnischer und religiöser Zusammengehörigkeit keinen Bestand mehr hat, wird von den meisten in den USA aber nicht verstanden. Seit der Staatsgründung haben die sunnitisch-arabische Minderheit und ihre Kader von Bagdad aus die Kurden im Norden und Schiiten im Süden unterdrückt. Mit dem Einmarsch der US-Truppen und ihrer Verbündeten brach nicht nur schlagartig Saddams Baath-Regime, sondern auch der sunnitisch-arabisch dominierte Unterdrückungsapparat zusammen. Daher hat sich der antiamerikanische Widerstand – insofern es sich nicht um infiltrierte islamistische Fundamentalisten und vom Iran eingeschleuste Kämpfer handelt – längst auch in einen innerirakischen Bürgerkrieg verwandelt. Der Aufstand des Schiitenführer Mutaka al-Sadr im Sommer 2004 in Nadschaf wurde von kurdischen Eliteeinheiten niedergeschlagen, die von US-Truppen unterstützt kämpften. Die Ölleitungen im Norden werden von Schiiten, die Trassen im Süden meist von Sunniten sabotiert. Letztes Wochenende demonstrierten Hunderttausende Kurden in Suleimanija für mehr Autonomie. Sie forderten die Vereinigung der beiden bisher rivalisierenden Parteien – der Demokratischen Partei von Massud Barsani und der Patriotischen Front von Dschalal Talabani. Das Endziel ist trotz aller Dementis unverkennbar: ein eigenständiger Kurdenstaat. Der Direktor des Instituts für europäische Studien der Uni Jerusalem, Schlomo Avineri, unter dem Sozialdemokraten und späteren Friedensnobelpreisträger Yitzhak Rabin Generaldirektor im israelischen Außenministerium, sprach schon 2003 aus, was westliche Diplomaten weder auf dem Balkan noch im Irak wahrhaben wollen: Die nach 1918 bzw. 1945 gezogenen Grenzen sind nicht mehr überall zu halten. Kurz gesagt: Drei Iraks sind besser als ein Irak (JF 46/03). Auch wenn es den USA gelingen sollte, 2005 Wahlen im Irak durchzuführen, wird der Zerfall des Kunststaates nicht aufzuhalten sein: Was nicht zusammengehört kann ohne Gewalt nicht zusammengehalten werden. Von besonderer Bedeutung für die EU wird jedoch die kurdische Lösung sein. Seit Anfang der neunziger Jahren ist es den Kurden gelungen, im Nordirak Ansätze einer Administration und Volkswirtschaft aufzubauen. Zudem verfügen die Kurden auch über gut ausgebildete, kampferprobte Streitkräfte. Kommt es aber zur Ausrufung eines Kurdenstaates, wird damit die Türkei herausgefordert: Die Kurden stellen etwa zwanzig Prozent der Bevölkerung der Türkei, unter dem Banner der PKK kämpfen sie seit Jahrzehnten für Minderheitenrechte und Autonomie. Die 1923 in Lausanne gezogene türkisch-irakische Grenze kann und wird die Kurden kaum aufhalten. Zudem sind in diesem Jahr erstmals kurdische und US-Sicherheitskräfte massiv gegen die Turkmenen (türkische Minderheit) in der Region Mossul vorgegangen. Ankara hat nicht nur laut protestiert, sondern den USA hinter den Kulissen mit dem Rauswurf aus dem Luftwaffenstützpunkt Incirlik gedroht. Angesichts dessen spricht inzwischen manches dafür, daß die versprochenen EU-Beitrittsverhandlungen mit der Türkei schneller im nächsten mittelöstlichen Blutbad ertrinken können, als das den Brüsseler oder gar Berliner Strategen bewußt ist. Foto: Kurdenführer Talabani (l.) und Barsani (r.) mit Ex-US-General Jay Garner: Überraschende Allianzen

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