Die Zuwanderungskommission des Bundesinnenministeriums nennt als Ursache für den Kindermangel der autochthonen Bevölkerung an vorderster Stelle die „Relativierung traditioneller Werte und Normen“, die sich auswirke in einer sinkenden Bereitschaft, über das eigene Leben hinauszudenken und erzieherische Verantwortung zu übernehmen. Das individuelle Lebensrisiko sichert der moderne Wohlfahrtsstaat, und er wird dies zweifellos auch nach Gesundheitsreform und Rentenkürzung tun. Die Scheu des Bürgers einer neoliberalistischen Wettbewerbsgesellschaft davor, freiwillig unentlohnte Verantwortung zu nehmen, ist groß. Was zählt, ist das größtmögliche Wohlergehen im Hier und Jetzt. Mit der Entscheidung für Kinder jedoch gewinnt die Zukunft ein drückendes Gewicht. Kinder als Auftrag zu betrachten, ist weitgehend obsolet geworden in einer Gesellschaft, die über die Säkularisierung hinaus in großen Teilen schlicht glaubenslos geworden ist. Für unsere moslemischen Zuwanderer gilt der Glaube noch als Lebenspfeiler und Richtschnur – von Kinderarmut ist hier keine Rede. Ebensolches sollte für Christen gelten, die ihren Glauben leben. Die Bibel beschreibt Kinder nicht nur als etwas Lustvolles und gleichzeitig Anstrengendes, sondern vor allem als einen Auftrag Gottes. Bei den Kleins wird gelebt, das ist nicht zu übersehen Horst und Helga Klein leben in Naumburg. Im eigenen Haus wohnen in den beiden Obergeschossen zwei Mietparteien, im Parterre die siebenköpfige Familie: das Ehepaar und die Kinder Christian, Anne, Johannes, Esther und Daniel. Esther, die keckste der Geschwister, öffnet die Tür: „Und wo sind deine anderen Kinder?“ fragt sie als Begrüßung. Die sind im Schwimmbad, wird geantwortet. „Und ihr?“ Wir kommen nach, so sei es verabredet. „Fein“, beschließt dann Esther, und, mehr für sich, „wir kommen dann mit“. Die Mutter ist dazugetreten und rollt grinsend die Augen, während die Sechsjährige das Besucherkind an der Hand packt und in eines der Kinderzimmer zieht. Die Heimat der Kleins liegt gute vierhundert Kilometer weiter westlich, er stammt aus dem Siegerland, sie vom Niederrhein. Dort hat Helga Klein studiert und bereits einige Jahre als Anästhesistin gearbeitet, bevor vor zwölf Jahren Christian, der erste Sohn, zur Welt kam. Bald nach der Wende verschlug es den Vater in die neuen Länder, nach Halle. Die Vorzüge, die eine Stadt an Schulen und kulturellem Angebot, an kurzen Wegen bietet, hatte man im Blick, als Helga Klein zwei Jahre später mit Christian, Anne und Johannes nachzog. Dem überschaubaren Naumburg gaben die Kleins dann aber den Vorzug vor Halle mit seiner etwas kalten Ausstrahlung, wie die Mutter die damals gefällte Entscheidung begründet. Und tatsächlich kann man städtisch wohl kaum schöner wohnen als die Kleins. Die Villa, die nach der Wende von der Heilsarmee genutzt wurde, liegt in kopfsteingepflasterter Idylle. Gehobene Wohnlage, ruhig und doch in Innenstadtnähe. Vereine, Musikschule, Theater: alles in leicht erreichbarer Nähe. Natürlich ist auch diese Stadt vom Kindermangel bedroht, so sollen beispielsweise die beiden Gymnasien der Domstadt in naher Zukunft zusammengelegt werden, und auch die Finanzierung des Schwimmbads, des einzigen im weiten Umkreis, steht auf der Kippe. Frau Klein beginnt eine Führung durch die geräumige Wohnung. Über der Garderobe ist eine Eichenholzschnitzerei angebracht: „Ich aber und mein Haus wollen dem Herrn dienen“, das Bibelzitat hatten Horst und Helga Klein sich als Hochzeitssegen gewählt. An den Wänden hängen gerahmte Drucke von van Gogh und Klimt neben Werken von Kinderhand. Altes und Neues ergänzen sich: in der Wohnstube alter Parkettboden, im Schlafzimmer ein Messingkronleuchter, der mit dem Haus übernommen wurde. Der Stuck an der hohen Küchendecke ist restauriert, das Mobiliar weitgehend aus jüngerer Zeit, schlicht und pragmatisch. „Bitte nicht mein Zimmer“, fleht Esther im Vorübergehen, „ich hab doch nicht aufgeräumt …“. In der Hand hält sie einen Badeanzug. „So ganz ordentlich kriegen wir’s halt nie hin“, erklärt die Mutter, und das klingt weniger nach der konventionellen Entschuldigung einer gehetzten Hausfrau denn nach großer Gelassenheit. Nebenbei, es trifft nicht wirklich zu. Hier wird gelebt, das ist nicht zu übersehen, aber alles hat seine Ordnung. Wie wäre es auch anders denkbar bei fünf Kindern? Überhaupt, die Gelassenheit: Ruhe und Frieden strahlt das Heim der Kleins, strahlen die Eltern selbst aus. Wenn es laut wird in den Kinderzimmern und die Jüngste anklagend den großen Bruder eines Plastikpistolenangriffs bezichtigt, genügen fünf ruhige Worte, um die Situation zu bereinigen. Horst Klein betritt das Haus durch eine Hintertür, die einst wohl als Lieferanteneingang gedient haben mag. Er schleppt Getränkekisten in den Vorratsraum. Den Saft gab es als Angebot im Supermarkt, da griff man gerne zu. „Das ist ja immer so ein Problem mit der Klausel über die haushaltsüblichen Mengen …“, lacht Herr Klein nach der Begrüßung, verschnauft und wischt sich die Stirn. Eigentlich dürfen nur zwei Kisten pro Kunde abgegeben werden. Dabei übertreffen die Kleins den „üblichen Haushalt“ ja etwa um das Dreifache, und das gilt es an der Kasse erst mal darzulegen … Am Küchenregal hängt ein Zettel, auf dem unter der Überschrift „Lieblingsspeisen“ die bevorzugten Menüs der Familienmitglieder aufgelistet sind. Daneben ein großer Holzwürfel, auf jeder Seite ist ein Tischgebet zu lesen. „Ja, der wird vor den Mahlzeiten gewürfelt“, erläutert Helga Klein, „und manchmal muß er dreimal rollen, bevor es losgehen kann.“ Aus ihrem Glauben schöpfen die Kleins viel Kraft. Mit einer gemeinsamen Bibellektüre beginnt das Ehepaar den Morgen, das gibt dem Tag einen Rahmen, ihnen beiden Stärke und Halt. Die Kinder besuchen mit den Eltern den sonntäglichen Gottesdienst, und die zwei ältesten haben vor kurzem auch damit begonnen, gelegentlich in der Bibel zu lesen. „Von alleine“, betont Helga Klein, „das haben sie sich wohl einfach von uns abgeschaut.“ Wichtig sei ihnen immer gewesen, den Kindern einen persönlichen Zugang zu Gott zu vermitteln: das Wissen, daß man geborgen ist. Welcher Wille, welcher Entwurf steckt dahinter, wenn man sich für ein Leben mit vielen Kindern entscheidet? Oder, andersherum, warum ist eine siebenköpfige Familie heute jenseits der Normalität? „Weil Kinder stören“, sagt Frau Klein, das klingt hart und entschieden. Sie ergänzt: „Natürlich stören Kinder, wo es um Selbstverwirklichung geht, um individualistische Selbstverwirklichung geht.“ Ihr scheine es, meint Helga Klein, daß Kinder heute mehr oder minder den Stellenwert eines Hobbys haben. Etwas, das man sich eben so gönnt – wenn überhaupt. Horst Klein ergänzt in die umgekehrte Richtung: Man erkenne den heute gängigen Trend zur Elternschaft nach individuellem Plan ja auch daran, welche harten Methoden immer häufiger zum Zuge kämen, wenn es denn zum erwünschten Zeitpunkt nicht klappe mit der Fruchtbarkeit – Hormontherapien, künstliche Befruchtung, da werde dann schnell die ganze Bandbreite an Wissenschaft und Technik bemüht. Hatten die beiden schon immer den Wunsch nach vielen Kindern? „Och, wir haben uns ja erst spät kennengelernt“, zuckt Horst Klein mit den Schultern. „Na ja, so als Teenager, da hatte ich mir eigentlich sechs Kinder vorgenommen“, sagt Helga Klein lächelnd, worauf ihr Mann ein erschrockenes Zusammenzucken simuliert: „Ach, dann fehlt uns ja noch eins!“ „Wir betrachten unsere Kinder einfach als willkommene Gabe Gottes“, erklärt seine Frau, die wie ihr Mann einer evangelischen Freikirche angehört. Immerhin, die recht aufwendige akademische Ausbildung zur Medizinerin hätte ja auch einen anderen Lebensweg nahegelegt. Ist der erlernte Beruf jetzt, wo der jüngste mit dreieinhalb Jahren kindergartenreif ist, eine reelle Option? „Sagen wir so“, formuliert Helga Klein, „wenn es nötig wäre, hätte ich überhaupt kein Problem damit, wieder im Krankenhaus oder bei einem niedergelassenen Arzt zu beginnen. Aber so – mir fehlt eigentlich nichts. So wie es ist, erfüllt mich unser Leben ganz und gar.“ Gemeindearbeit ist für die Familienmutter der Ausgleich In ihrer freien Zeit – die es so ja kaum gibt, solche Stunden muß man sich schon bewußt herausnehmen – ist Frau Klein für die Heilsarmee tätig. Ehrenamtlich. Zur Zeit beginnen die Vorbereitungen für die große Weihnachtsfeier der Heilsarmee, es ist Brauch geworden, daß die Kleins hierzu ein festliches Musical komponieren und dessen Aufführung leiten. Die Mutter ist dankbar, daß das Einkommen ihres Mannes keinen Zweitverdienst dringlich erscheinen läßt. Das war bei weitem nicht immer so, davor lag harte Arbeit, zeitweise auch auf mehreren Standbeinen. Die soziale und Gemeindearbeit betrachtet die Familienmutter als notwendigen Ausgleich: „Nur Haushalt und Kinder, da würde mir die Decke schon manchmal auf den Kopf fallen“, gibt sie zu. Während der vergangenen Stunde hatte sich die Planung der Sechsjährigen für den späteren Nachmittag eher lautlos unter der restlichen Geschwisterschar verbreitet, und irgendwann verkündet Johannes an der Küchentür: „Papa, ich hab deine Schwimmsachen auch schon gepackt.“ Der Vater grinst gequält und verdreht wieder die Augen. Am frühen Abend rückt Vater Klein mit großer Begleitung ins Naumburger Hallenbad ein, sechs Kinder im Schlepptau, ein Nachbarjunge wurde kurzerhand auch noch ins große Familienauto gepackt. Knapp 25 Euro ist der Familienvater freilich los. Früher seien sie öfter mal schwimmen gewesen mit der ganzen Familie, das Bad liegt ja schön nah, was für sachsen-anhaltinische Verhältnisse bereits als Privileg angesehen werden muß. „Nach der letzten Preiserhöhung haben wir’s dann für einige Zeit gelassen, aber …“ – Horst Klein weist mit dem Kopf bedeutungsvoll auf die Kindermeute. Bald ist die Familie Klein nicht mehr zu sehen. Nach einer weiteren Schwimmrunde wird man fündig: Draußen, wo es gerade wieder gegen Null geht und ein kalter Strömungskanal die mutigsten der Badegäste im Kreis treibt, paddeln die Kleins. Wenigstens einige der Familienmitglieder, der Nebel erlaubt keine genaue Sicht. Aus der ruhigen Mitte winkt Horst Klein lachend der Reporterin, die schnell wieder in den überdachten Bereich krault, weil die Haare schon zu gefrieren beginnen.