Vergangene Woche hat der französische Staatspräsident Jacques Chirac zum ersten Mal in bezug auf die Irak-Krise das Wort „Krieg“ in den Mund genommen und die Möglichkeit der französischen Beteiligung an einer Militäraktion angedeutet. Es scheint, als wolle er die Öffentlichkeit auf den Ernstfall vorbereiten. Daß dieser Sinneswandel auch auf Druck aus Washington beruht, ist ein offenes Geheimnis. Andererseits will Paris nicht zu kurz kommen, sollte die von den USA geplante Neuordnung in der Region Realität werden. Schließlich sind nicht nur US-Firmen an den dortigen Erdöl- und Gasvorkommen interessiert – doch offiziell geht es „nur“ um die Einhaltung der UN-Resolutionen. Bei dem traditionellen Neujahrsempfang für die Spitzen der Armee im Elysée-Palast forderte Chirac die französischen Streitkräfte auf, sich „für alle Eventualitäten bereitzuhalten“. Seine Ansprache leitete nahtlos von den Kriegsschauplätzen, „wo unsere Streitkräfte eingesetzt sind“, zu der Befürchtung über: „Leider können demnächst neue hinzukommen.“ Dann wurde der Präsident noch deutlicher: „Vor allem müssen wir aufmerksam verfolgen, inwieweit der Irak den Verpflichtungen der Resolution 1441 des Sicherheitsrates der Vereinten Nationen nachkommt.“ Anschließend sprach er vor dem diplomatischen Korps sogar ausdrücklich von „Krieg“: „Die internationale Gemeinschaft kann sich nur im äußersten Notfall für einen Krieg entscheiden, wenn alle anderen Möglichkeiten erschöpft sind.“ Ein derartiges semantisches Einlenken bedeutet einen scharfen Kurswechsel an der Spitze der Republik. Seit dem vergangenen Dezember haben Chirac und die bürgerliche Regierung Jean-Pierre Raffarins unzählige rednerische und diplomatische Anstrengungen unternommen, um die „internationale Gemeinschaft“ und die Uno dazu zu bewegen, eine friedliche Lösung der Irak-Krise zu finden. Am Ende gelang es ihnen, die französische Öffentlichkeit zu überzeugen, der Spuk eines Krieges und der kriegerische Eifer der USA hätten sich dank Frankreichs Zauberkraft in Luft aufgelöst. Antiamerikanismus und das Hirngespinst einer gaullistischen Unabhängigkeitspolitik kommen im Staate Asterix‘ immer gut an, so daß Chirac enorm von dieser Entwicklung profitieren konnte. Wie läßt sich nun am unauffälligsten eine Kehrtwende vollziehen und den Bürgern begreiflich machen, daß man US-Präsident George W. Bush Gefolgschaft schuldig ist? Diese Frage verdarb Chirac die Weihnachtsfeiertage. Mit dem ihm eigenen Talent für Öffentlichkeitsarbeit beauftragte er seinen Premier, der französischen Beteiligung an einem neuen Krieg mit dem Irak den Weg zu bereiten. In einem Interview mit dem Regionalblatt La Montagne gab Raffarin Ende Dezember folgende sibyllinische Weisheit zum besten: „Krieg ist, was einem übrigbleibt, wenn man alles versucht hat, und wir wollen alles versuchen, um Krieg zu vermeiden.“ Nun drehte Chirac vor dem diplomatischen Korps das rhetorische Rad weiter in Richtung der Wahrscheinlichkeit eines Krieges. Damit der Schein dennoch gewahrt blieb, fügte er hinzu, Frankreich beabsichtige, sich „volle Ermessensfreiheit zu bewahren“. Für den Chirac ist der Irak ein peinliches Thema. Zum einen wäre da das lästige Phantom seiner Freundschaft mit Iraks Präsident Saddam Hussein zu nennen sowie die verschiedenen Verträge, die zwei Jahrzehnte lang unter Chiracs Ägide zwischen Frankreich und dem heutigen „Schurkenstaat“ Irak abgeschlossen wurden. Zum anderen läßt sich voraussehen, welche Reaktionen ein westlicher Angriff auf den Irak bei den in Frankreich ansässigen Maghrebinern hervorrufen wird, von den arabischen Staaten ganz zu schweigen. Die Glaubwürdigkeit französischer Beteuerungen einer von den USA unabhängigen Politik wäre vollends ruiniert. Schließlich gilt es, die französische Öffentlichkeit von der Legitimität eines Krieges gegen den Irak zu überzeugen. Momentan lehnen allen Umfragen zufolge zwei Drittel der Franzosen eine Beteiligung an der Irak-Offensive ab. Der Widerstand kommt zumeist von beiden Enden des politischen Spektrums. Auf der Rechten sind Jean-Marie Le Pen und sein Front National mit ihrer antiamerikanischen Haltung nicht allein, wie die angekündigte parlamentarische Debatte zeigen dürfte. Die Linke ist ebenso allzeit bereit, sich an die Spitze der pazifistischen Strömung zu stellen, zumal ihre „intellektuellen“ Vordenker schwere Vorbehalte gegen eine westliche Intervention im Irak äußern. Das gilt selbst für so eifrige Fürsprecher „humanitären Interventionen“ wie Alain Finkielkraut und Bernard Henri Lévy, die vor drei Jahren den Nato-Angriff auf Milosevic‘ Serbien befürworteten. Die seit den Wahlschlappen von 2002 in Depression verfallene Linke könnte hier ein Mittel gegen ihre allgemeine Entkräftung entdecken – der deutsche Bundeskanzler Gerhard Schröder hatte es ja mit seinem Wahlsieg im September vorgemacht. Der frühere sozialistische Minister Jack Lang hat bereits in der Tageszeitung Libération vom 8. Januar erklärt: „Es ist undenkbar, daß unser Land sich auf ein illegales und mörderisches Abenteuer einläßt. In der Uno muß Frankreich von seinem Vetorecht Gebrauch machen, um den Manövern des US-Präsidenten entgegenzutreten.“ Lang, der den Golfkrieg 1991 unterstützte, betont: „Damals war der Irak in Kuwait einmarschiert. Dies war eine Kriegshandlung. Wir hatten keine andere Wahl, als zu kriegerischen Mitteln zu greifen … Diesmal hat der Irak, soweit ich weiß, niemanden angegriffen … Im Gegenteil ist er Opfer ständiger Bombenangriffe seitens der USA und Großbritanniens.“ Der Vertrauensvorschuß, den Chirac seit seiner triumphalen Wiederwahl im letzten Frühjahr genossen hat, ist mittlerweile ausgeschöpft. Er sieht sich nun gezwungen, der harten Realität ins Gesicht zu sehen, bei der Stimmung des Volkes angefangen. Schon in der Frage des türkischen EU-Beitritts hatte sich die französische Öffentlichkeit großenteils gegen den Präsidenten gewandt. Die Pose des geduldigen Staatsmannes, der die Nation um die Prinzipien eines „Konservatismus mit Gefühl“ versammelt, steht ihm nicht mehr gut an. Die Geschichte und ihre Tragik haben ihn eingeholt. Im Landesinnern muß die Polizei ihre Einsätze vervielfachen, nicht nur, um der Bedrohung durch islamische Netzwerke in Zusammenarbeit mit tschetschenischen Terroristen Herr zu werden. Eine Art „fünfte Kolonne“ ist aus dem Millionenheer der muslimischen Einwanderer leicht zu rekrutieren. Seit Jahren schon gibt es aus Anlaß des israelisch-palästinensischen Konfliktes Anschläge und Übergriffe auf französische Juden und ihre Geschäfte und Einrichtungen – bei einem Irak-Krieg könnten sich solche Gewaltakte auf ganz Frankreich ausdehnen. Die hundertfachen „traditionellen“ Brandanschläge auf Autos zu Silvester geben einen kleinen Vorgeschmack auf all das, was möglich ist. Währenddessen droht die französische Armee, die etwas leichtfertig 2.500 Elitesoldaten an die Elfenbeinküste entsandte, in die nebulösen Affären eines in der Auflösung begriffenen Staates verwickelt zu werden. Nun sieht sie sich aufgefordert, sich für einen möglichen Krieg mit dem Irak bereitzuhalten, in dem sie den amerikanischen und britischen Streitkräften vermutlich Handlangerdienste leisten müßte. Bislang liegt von französischer Seite noch kein „spezifischer Plan“ vor, wenn man Verteidigungsministerin Michèle Alliot-Marie Glauben schenken darf. Die militärischen Oberbefehlshaber lassen lakonisch verlautbaren, man habe sich darauf beschränkt, eine „Inventur der verfügbaren Mittel“ vorzunehmen. Bei ihrem Amtsantritt im vergangenen Juli hatte die frühere Jugend- und Sportministerin Alliot-Marie mit Entsetzen festgestellt, wie ungenügend die französischen Streitkräfte für einen Krieg gerüstet wären. Daß sechs Monate ausreichen konnten, um alle Lücken zu füllen, die Jahre der sozialistischen Vernachlässigung des Militärs hinterlassen haben, scheint wenig wahrscheinlich. Dem französischen Präsidenten stehen schwere Zeiten bevor.
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