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Marc Jongen, ESN Fraktion
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Marc Jongen, ESN Fraktion

„Ablehnung des Wertesystems der Wohlstandsgesellschaft“

„Ablehnung des Wertesystems der Wohlstandsgesellschaft“

„Ablehnung des Wertesystems der Wohlstandsgesellschaft“

 

„Ablehnung des Wertesystems der Wohlstandsgesellschaft“

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Herr Matzke, das alljährliche Wave-Gotik-Treffen in Leipzig ist das größte seiner Art. Wie hat die am vergangenen Pfingstwochenende zum zwölften Mal stattgefundene Veranstaltung über die Jahre ihren Charakter verändert? Matzke: 17.000 Besucher wie beim Treffen 2002 erfordern natürlich andere Strukturen als das erste Treffen 1992 mit nur 800 Besuchern. Es hat freilich im Führungsgremium ab dem siebten oder achten Treffen Diskussionen darüber gegeben, ob man das Besucherwachstum forcieren, hinnehmen oder eher bremsen solle. Es haben sich zunächst die Befürworter der ersten Variante durchgesetzt und sind damit 2000 grandios gescheitert. Inzwischen hat sich hinsichtlich der Besucherzahlen ein begrenztes Treffen durchgesetzt. Es geht den Veranstaltern nicht ums Geld, denn in kommerzieller Hinsicht sind die zentralen Prämissen des Treffens, etwa viele verschiedene kleinere Bühnen zu bespielen, an einem breiten Rahmenprogramm festzuhalten oder auf die wirklich massentauglichen Headliner zu verzichten, eher kontraproduktiv. Vor drei Jahren brannten Veranstalter mit der Kasse durch. Ist das Wave-Gotik-Treffen noch in Gefahr, pleite zu gehen? Matzke: Eigentümlich, wie lange sich Falschmeldungen halten. Vor drei Jahren gingen ein Konzept und eine Firma pleite. Ein verrücktes Treffen in jeder Hinsicht. Durchgebrannt ist aber damals keiner. Die Mitnahme der leeren Kasse hätte auch nicht gelohnt. Micha Brunner, Treffen-Initiator und künstlerischer Leiter – ihm wurde das Durchbrennen mit der Kasse nachgesagt – hat Leipzig damals nicht verlassen und sich nirgends versteckt. Er lebt noch immer hier. Warum ist diese Szene ausgerechnet bei uns so erfolgreich? Hat diese musikalische Weltsicht etwas spezifisch Deutsches? Matzke: Das ist schwer zu beantworten. Vorsichtig gesagt: Es ist sicher eine dezidiert europäische Weltsicht. „Europäisch“ gilt heute vielen als Synonym für Multikulti. Matzke: Für mich ist Europa nicht per se Multikulti, es hat eine eigene kulturelle Tradition. Multikulti entsteht erst durch das Nebeneinander verschiedener, vor allem außereuropäischer Kulturkreise. Multikulti ist sehr wichtig, aber kulturelle Identität eben auch. Diese Szene rekurriert auf dezidiert europäische Kulturtraditionen, sie lebt etwas, das vor allem der nordeuropäischen Mentalität und Denkart entgegenkommt. Unter den fast 20.000 Besuchern des Treffens habe ich bislang erst einen einzigen farbigen Gast ausmachen können. Und noch nie habe ich dort jemanden gesehen, der offenbar aus dem islamischen Kulturkreis stammt. Worum geht es der Szene: um Spaß und Unterhaltung der etwas anderen Art oder um einen Gegenentwurf zur herkömmlichen bürgerlichen Welt und Lebensweise? Matzke: Um beides. Jeder hat da seine Prämissen und seinen eigenen Zugang zur Szene. Das Wort Gegenentwurf führt sicher zu weit. Insgesamt aber ruht die geistige Basis der Szene auf einem Hinterfragen der gegenwärtig propagierten und gelebten Wertesysteme. Es wird bewußt oder unbewußt nach alternativen Lebensmodellen gesucht. Die meisten Besucher wirken allerdings eher wie schlichte Disco-Besucher – nur schwarzgewandet. Matzke: Da gebe ich Ihnen recht, würde das aber nicht als Vorwurf formulieren. Wie das so ist, die Hälfte redet von Nietzsche, gelesen hat ihn aber kaum einer. Ich würde es so formulieren: Die Grundausrichtung der schwarzen Geisteshaltung wird von fast allen in der Szene mitgetragen, aber ist in sehr unterschiedlichem Maße wirklich verinnerlicht. Wieso wurde Leipzig als Veranstaltungsort ausgesucht? Hatte dies etwas mit der Situation nach 1989 zu tun? Matzke: Die Wahl des Veranstaltungsortes war eher Zufall. Immerhin aber hatten hier unter den Bedingungen des Ostens solche Jugendbewegungen immer verblüffend gut funktionierende informelle Strukturen. Kein Wunder, daß schon bei den ersten Treffen und ohne das normale Festival-Procedere über bekannte Künstler viele Leute mobilisiert werden konnten. So konnte die Veranstaltung in Leipzig immer ein Treffen bleiben und mußte nie zum Festival mutieren. Das heißt, das Treffen hat seinen unkommerziellen, persönlichen Charakter bewahren können, hier trifft man sich mit anderen und konsumiert nicht nur eine Show. Ist die Szene im weiteren Sinn politisch? Matzke: Die Szene ist an sich apolitisch – insofern, als daß sich kein politischer Meinungs-Mainstream ergibt, der in das gängige Politikmodell eingeordnet werden könnte. Allerdings ist die weitgehende Ablehnung des Wertesystems der europäischen und amerikanischen Wohlstandsgesellschaft in meinen Augen eine hochpolitische Aussage. Dem Bürger ist es höchst unbehaglich, wenn jemand das Wertesystem, in dem er sich behaglich eingerichtet zu haben glaubt, komplett in Frage stellt. Dieses Unbehagen äußert sich dann in verschiedenster Form. Zunächst treten die gewalttätigen Stoßtrupps des verängstigten Kleinbürgers auf den Plan. Was meinen Sie? Matzke: In der zweiten Hälfte der neunziger Jahre wurden Treffenbesucher gelegentlich von Nazi-Glatzen bedroht, die das „Undeutsch-Schwul-Weibische“ der Gruftis bekämpfen wollten. Im letzten Jahr gab es Auseinandersetzungen mit (mutmaßlichen) Autonomen, die „Faschisten“ geortet haben wollten. Mit den Kirchen haben wir immer Probleme – die halten uns für Satanisten. Ein Großteil der Bürger hält Gruftis sowieso nur für Tote auf Urlaub. Im vergangenen Jahr wurde der holländische Musiker Peter Savelkoul von Antifa-Aktivisten krankenhausreif geprügelt. Matzke: Wir hatten uns kurz zuvor bei dem Konzert auf der Parkbühne noch angeregt unterhalten. Peter zeigte sich mir gegenüber sehr überrascht über die negativen Reaktionen, die er bis dahin in der Stadt und auch von Treffenbesuchern aufgrund seines Tarnanzuges geerntet habe, zu Hause in Holland würde sich um derlei Äußerlichkeiten niemand scheren. Ich äußerte mein prinzipielles Bedauern darüber, wandte jedoch ein, daß es in jedem Land bestimmte historisch-kulturelle Besonderheiten zu beachten gäbe, die man als Gast zumindest im Hinterkopf haben sollte. Ich konnte nicht ahnen, daß sich zu diesem Zeitpunkt draußen vor der Bühne schon gewaltbereite Dumpfschädel zusammenrotteten. Leider haben wir keinen einzigen dieser brutalen Gewalttäter dingfest machen können. Es kann also nur vermutet werden, daß diese Leute ihr Verbrechen unter einem politischen Deckmantel verübten. Man ist zu vorschnell, das Handeln solcher Subjekte durch ein angeblich politisches – also ideelles – Motiv zu adeln. Wir leisten der Gewalt Vorschub, indem wir sie zur politischen Meinungsäußerung hochstilisieren. Für mich sind das dumpfe Schläger, sonst nichts. Als wir Herrn Savelkoul wegen eines Interviews ansprachen, immerhin ein Jahr nach dem Überfall, wirkte er immer noch sehr verstört und lehnte es schließlich – vermutlich aus Angst vor neuen Übergriffen – ab, darüber zu sprechen. Machen Ihnen solche Verhältnisse nicht Angst? Matzke: Natürlich, wir haben sofort Anzeige erstattet, doch wie gesagt ohne Erfolg. Allerdings muß man in Betracht ziehen, daß es 2002 besonders schlimm war. Insgesamt gab es beim letzten Mal drei Überfälle dieser Art. In diesem Jahr ist allerdings nichts passiert. Wir hoffen, dabei bleibt es. Im Jahr 2000 wurde der nonkonformen Gruppe „Von Thronstahl“ um Josef-Maria Klumb der Auftritt verweigert. Matzke: Wir halten uns an die Gesetze des Staates, in dem wir leben. Sollte dieser zu der Auffassung gelangen, daß der eine oder andere Künstler aus Belangen des Staatsschutzes heraus besser nicht auftreten sollte, so setzen wir solche Hinweise entsprechend um. Wie bewerten Sie das Verbot für „Von Thronstahl“? Matzke: Wir können das nicht werten, wir können das nur hinnehmen, so unangenehm das ist. Wo die Meinungsfreiheit eingeschränkt wird, rufen die Repräsentanten des Staates dazu auf, „Zivilcourage“ zu zeigen. Matzke: Soweit ich das Werk des Josef-Maria Klumb kenne und soweit ich unsere Verfassung verstanden habe, gibt es keinen Punkt, in dem sich beide widersprechen würden. Daß der Staat diese Widersprüche dennoch zu entdecken meint und wie er damit umgeht, nämlich, daß er sein Verbot nicht angemessen vorher, sondern erst fünf Stunden vor Auftritt der Gruppe ausspricht, so daß die Zeit zu kurz ist, um dagegen Rechtsmittel einzulegen, ist eine andere Sache. Am Ende standen die Jungs reglos auf der Bühne, während ihre Musik vom Band lief. Der Rest ist Schulterzucken. Peter Matzke , 40, ist studierter Historiker und Sprecher des Wave-Gotik-Treffens in Leipzig. weitere Interview-Partner der JF

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