Statt Karibik ist Balkonien angesagt, statt all-inclusive Selbstversorger. Wenigstens die stressige Anreise ist mir erspart geblieben. Kein Kofferpacken, keine fünfstündige Zugfahrt, keine lästigen Sicherheits- und Zollkontrollen, kein zehnstündiger Flug.
In den Urlaub ist es nur ein Schritt aus dem Zimmer. Ich rücke mir den Liegestuhl zurecht und den Sonnenschirm. Ein paar große Meeresschneckenhäuser, bisher im Keller lagernden Mitbringsel vergangener Reisen, habe ich auf der Terrasse verteilt. Falls ich das Meer rauschen hören möchte, kann ich sie mir ans Ohr halten.
Aber klingt nicht auch der an- und abschwellende Sound der nahen Fernverkehrsstraße ein wenig wie die ans Ufer schlagenden Wellen? Ich lege den großen Seestern neben die Tube mit der Sonnencreme. Der Wetterbericht hat 20 Grad Celsius versprochen. Wolkenlos ist der Himmel jetzt schon, aber der Wind bläst frisch.
Ich habe frei, frei, frei
Also ab ans Buffet. Ein Blick in den Kühlschrank läßt mir die Qual der Wahl. Ich entscheide mich für Frischkäse und Salami. Ich löffle Kaffee – es ist welcher aus dem Urlaubszielland – in die Filtertüte und gieße mit der Hand das kochende Wasser auf. Der Toaster wirft zwei Scheiben aus. Das Radio mit seinen Corona-Nachrichten bleibt aus. In der Karibik gibt es keine aktuellen Meldungen in deutscher Sprache.
Das Nachrichtenmagazin, das ich aus einem Zeitungsstapel gezogen habe, ist drei Jahre alt und in seiner Unaktualität höchst interessant. Die Hamburger Journalisten feiern gerade einen gewissen Martin Schulz, dem sie gute Chancen geben, die Bundeskanzlerin zu stürzen. Mit dem Wissen des Kommenden lächle ich vor mich hin.
Mit einem Roman, einem Reiseführer und einem Bildband unter dem Arm lasse ich mich in den Liegestuhl fallen. Ich habe frei, frei, frei. Ich muß nicht einmal mit einem Handtuch meinen Platz reservieren. An einem Joghurt-Drink nippend, überlasse ich mich der Erzählkunst des Schriftstellers, folge ihm in seine Welten, nicke ein.
Neuen Pfaden gefolgt, alte Bekannte getroffen
Die Sonne wandert. Ich muß den Stuhl neu ausrichten. Außerdem ist es Zeit für ein Mittagessen. Die Liste der angebotenen Speisen ist lang, die Entscheidung fällt auf ein tiefgefrorenes vegetarisches Gericht. Fleisch würde zuviel Sonnenzeit kosten. Bei der zweiten Runde Sonneanbeten fehlt mir irgendetwas: Richtig, der Cocktail. Ich mixe mir einen großen. Dazu gibt es Reggae-Musik. Ich döse wieder ein. Das Klatschen eines Tretbootes auf die Wellen weckt mich. Es ist die Waschmaschine im Schleudergang. Auch fröstelt es mich leicht. Die Sonne ist weitergezogen. Ich korrigiere erneut die Position der Liege. Außerdem schmerzt der Rücken.
Ich muß etwas unternehmen. Im Hotel gibt es einen Animateur und zahlreiche Freizeitangebote, überlege ich. Also nehme ich Zettel und Stift, um die nächsten Tage zu strukturieren: 30 Minuten Sport, eine Stunde für das Erlernen der Landessprache, Länderkunde, ein Halbtagesausflug, Steuererklärung. Was habe ich da geschrieben? Ich streiche das letzte Wort, schließlich bin ich jetzt in der Karibik.
Statt dessen notiere ich Tanzkurs und Video. Ich stelle mich ans Geländer, schaue nach links und zucke zurück. Da liegt mindestens ein halbes Dutzend Menschen ebenfalls auf ihren Terrassen, das Gesicht zur Sonne ausgerichtet – als läge ich wirklich an einem Pool. Von gegenüber grüßt ein Nachbar, der unter seinem Sonnenschirm sitzt. Die erste Urlaubsbekanntschaft ist geschlossen, denke ich und winke zurück.
Doch keinen Sport getrieben
Nach fünf Tagen mit den Füßen in einem Minipool wird es langweilig, auch streikt die Sonne. Ich unternehme Tagesausflüge in alle vier Himmelsrichtungen, entdecke Pfade, denen ich in den vergangenen Jahrzehnten noch nie gefolgt bin, treffe auf ihnen Bekannte, die einmal Freunde waren, ehe man sich aus den Augen verloren hat; und ich erfreue mich an der einfühlsamen Siedlungshausarchitektur der 1920er Jahre.
Lese mit Interesse die handgeschriebenen Schilder an den Geschäften, die von der Rückkehr zur Normalität künden. Ich schalte doch das Radio an: Was ist los in der Welt? Die Nachrichten sind beruhigend beunruhigend, ich habe nichts verpaßt. Die Schnappatmung des Sprechers hat sich nicht gegeben.
Ich ziehe den Stecker und packe Liegestuhl und Sonnenschirm zusammen, räume die Meeresschneckenhäuser weg und schmeiße die alten Magazine weg. Doch keinen Sport getrieben, keine Sprache erlernt, einfach faul gewesen. Morgen ist der Urlaub zu Ende.
JF 22/20