Niemand kann den Sieg uns rauben, weil wir an den Führer glauben.“ Dieser Satz, den Millionen Deutsche mit ihrem Leben bezahlten, hätte beinahe auch für den damals 15jährigen Arthur Führer das vorzeitige Ende bedeutet. 1929 im thüringischen Großensee geboren, wird er wenige Wochen vor Kriegsende noch eingezogen und bei der Panzerabwehr eingesetzt. Im letzten Augenblick hat er Glück, er kann sich retten und überlebt. Ähnlich Helfried Israel aus der Nähe von Glauchau, auch er ist 15 Jahre, als er zur Volkssturmausbildung herangezogen wird, und auch er vermag Gevatter Hein davonzulaufen.
Die zwei Jugendlichen zählen zu den 15 Millionen deutschen Heranwachsenden, die als die Generation der „Kriegskinder“ erst sehr spät sowohl von der Geschichtsforschung wie von der medialen Öffentlichkeit wahrgenommen wurden. Im innerfamiliären Bereich ist das Gespräch hierüber oftmals immer noch tabu. Die Journalistin Sabine Bode beschreibt in ihrem aktuellen Buch „Kriegsenkel. Die Erben der vergessenen Generation“ diese seltsame Leerstelle im bundesdeutschen Bewußtsein. Noch wenige Jahre zuvor waren nicht einmal die Angehörigen der Kriegskinderjahrgänge selbst – die etwa zwischen 1930 bis 1945 geborenen – der Meinung, als Generation ein besonderes Schicksal erlitten zu haben.
Das „Neue“ an diesem Phänomen, so Bode, sei die umfassende Form der Verdrängung gewesen: „eine große Gruppe von Menschen, die in der Kindheit verheerende Erfahrungen machte, aber über Jahrzehnte in der Mehrzahl eben nicht das Gefühl hatte, etwas Schlimmes erlebt zu haben. Denn es fehlte ihnen der emotionale Zugang zu diesen Erfahrungen und damit auch der Zugang zu den wichtigsten Prägungen.“
Ein Beispiel hierfür ist der von Autorin Bode zitierte 70jährige Mann, der bis vor einem Jahrzehnt mit kaum zu steuernden Ängsten und Spannungen durchs Leben lief, nicht wissend, woher diese stammten: „Das Schlimmste ist, daß man nicht weiß, daß man kriegstraumatisiert ist. Als Kind weiß man das nicht. Auch später hat niemand darüber geredet. So hört der innere Schrecken nie auf.“ Das Beschweigen der eigenen Verletzungen verstärkte sich vor allem mit der Ausstrahlung der TV-Serie „Holocaust“. Deutsche als Opfer waren seitdem „kulturell nicht mehr erwünscht“. Erst vor wenigen Jahren wurde der Begriff „Kriegskinder“ zur Generationsbezeichung.
Erstmals öffentlich diskutiert wurde ihr Schicksal im Jahr 2005 auf dem ersten großen Kriegskinderkongreß in Frankfurt/Main. Allein von den Angehörigen der Jahrgänge 1930 bis 1945 leben heute noch 15 Millionen Menschen, etwa ein Viertel von ihnen, so die Prognose, leidet bis heute unter den Spätfolgen der traumatisierenden Erfahrungen. Sichtbares Ergebnis des spät erwachten Interesses an dieser Generation ist auch die vierteilige ARD-Dokumentation „Kriegskinder“. In ihr kommen neben den eingangs erwähnten Arthur Führer und Helfried Israel auch prominente Kriegskinder zu Wort, wie etwa Dieter Hallervorden (geb. 1935) oder „Blacky“ Fuchsberger (geb. 1927). Der Komiker Hallervorden erinnert sich, wie er als neunjähriger Pimpf voller Begeisterung bei Quedlinburg im Harz mit tausend anderen auf einem riesigen Platz zum Indianernahkampf angetreten war. Ehe er sich versah, ertönte der Befehl, sich den Nachbarn zu greifen und diesen niederzuringen. Der einzige, der unbeteiligt stehenblieb, war Hallervorden selbst. Seitdem, so sein Kommentar, „lieb ich ungerade Zahlen“. Joachim Fuchsberger meldet sich 1942 freiwillig als Flakhelfer. Für seinen Einsatz als Melder in den Bombennächten, deren Inferno er eher zufällig überlebt, erhält der damals 15jährige das Kriegsverdienstkreuz mit Schwertern – und er erlangt erstmals medialen Ruhm. Doch die meisten Erinnerungen sind schrecklicher Natur, und sei es „nur“ seelischer.
Im Unterschied zu den – in den letzten Jahren in Mode gekommenen, mit aufgesetztem Pathos daherkommenden – Formen der Nachinszenierung, beschränkt sich diese Dokumentation in wohltuender Weise auf das je einzelne Schicksal. Wesentliches Mittel ist das des Zuhörens. Ergänzend geraten Fotos aus Privatarchiven, Kinderzeichnungen oder Tagebuchauszüge der Volkssturmjugend ins Bild. Szenische Nachstellungen in Farbe, die kindliche Stimmungsbilder widerspiegeln sollen, werden zum Glück nur dezent eingesetzt. Stattdessen bewegen die Berichte der Zeitzeugen, wie Karlheinz Radatz (Jahrgang 1933), der in der ersten Folge „Vater muß jetzt an die Front“ (ARD, 16. März, 21 Uhr) erzählt: „Meine Mutter saß in der Küche und weinte verzweifelt, ich hab’ immer ihr Knie gestreichelt und gar nicht verstanden, warum sie so traurig ist.“
Fotos: Oben: Elternlos durch Ostpreußen: Allein gelassen (Spielszene), Unten: Kleines Mädchen auf der Flucht (vermutlich Kassel): Wohin?