Eine Stunde schon sitzen Erwachsene auf viel zu kleinen Stühlen. Eifrig machen sie sich Notizen. Nullter Elternabend in einer von Tausenden Grundschulen in Deutschland. Ende August beginnt für ihre Kinder die erste Pflicht, der Schulunterricht. Die Liste des bis dahin zu Organisierenden ist lang. Nicht überall gibt es durch „größere Geschwisterkinder“ bereits vorhandene Erfahrungen. Schließlich stellt eine Mutter die Frage, die irgendwie allen durch den Kopf geht: „Was darf nicht in die Zuckertüte?“
Der Begriff Zuckertüte ist noch immer weit verbreitet, auch wenn heutzutage häufig von Schultüte gesprochen wird. Entstanden ist sie wohl im 19. Jahrhundert, als die Eltern ihren Kindern den Gang zur Schule zumindest am ersten Tag versüßen wollten, als Trostpflaster vor dem beginnenden „Ernst des Lebens“.
Manch Schultüte ist größer als der Steppke selbst
Im „Zuckertütenbuch für alle Kinder, die zum ersten Mal in die Schule gehen“ von Moritz Heger von 1852 gibt es im Schulkeller einen besonderen Baum, von dem der Lehrer für brave Kinder eine Tüte pflückt. Und im 1859 erschienenen „Neuen Zuckerdütenbuch“ ist eine Zeichnung zu sehen, zu der es heißt: „Bertha hat sich vorgesehn, /will die Düte gut verwahren, /darum muß sie langsam gehn, /daß ihr Nichts kann widerfahren.“
Vorsicht ist beim Tragen der Zuckertüte angebracht. So ließ Erich Kästner an seinem ersten Schultag 1906 in Dresden seine „Zuckertüte mit der seidnen Schleife“ fallen, als er sie einer Nachbarin zeigen wollte. Plötzlich stand er „bis an die Knöchel in Bonbons, Pralinen, Datteln, Osterhasen, Feigen, Apfelsinen, Törtchen, Waffeln und goldenen Maikäfern“. So beschreibt er es in seinen Erinnerungen „Als ich ein kleiner Junge war“ und liefert damit einen Hinweis auf den Inhalt der Tüten, an dem sich heutige Eltern durchaus orientieren können.
Zuckertüten dachten sich wohl die gemütlichen Kaffeesachsen aus. Zumindest findet sich der früheste Hinweis auf sie in der Autobiographie des Pastorensohns Karl Gottlieb Bretschneider, der 1782 im sächsischen Gersdorf bei Hohenstein-Ernstthal eingeschult wurde und notierte, daß er vom Schulmeister eine Zuckertüte erhielt. Und als Johann Daniel Elster 1801 im thüringischen Benshausen eingeschult wurde, galt die Übergabe einer Zuckertüte durch den Kantor bereits als „alter Brauch“. In Jena, Dresden und Leipzig wurden den Kindern in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts Geschichten vom Schultütenbaum erzählt, wenn dessen „Früchte“ groß genug seien, könnten diese gepflückt werden und es sei auch Zeit für den Schulbeginn.
Alte Tradition aus Sachsen und Thüringen
Als Brauch setzte sich die Zuckertüte außerhalb Sachsens und Thüringens erst allmählich durch. Zu erst wurde er in Schlesien und bei den Deutschen in Böhmen aufgegriffen. In Berlin wohl erst in den 1920er Jahren, in Österreich 1938, in Westdeutschland nach dem Zweiten Weltkrieg. Den Sprung in die Schweiz schaffte sie bisher nicht.
Weniger bekannt ist, daß die Form der Zuckertüte etwas über ihren Ursprung sagt. Denn die Zuckertüten in der DDR waren sechseckig und auf 85 Zentimeter Größe genormt, die im Westen üblichen waren rund und meist 70 Zentimeter lang. Diese Form war auch in der Vorkriegszeit üblich. Allerdings gab es in der Praxis Papptüten in allen Größen, vor allem in jenen Jahren, in denen Eltern, Großeltern oder Onkel und Tanten noch genug Zeit und Ehrgeiz besaßen, selbst Tüten für die Schulanfänger zu basteln. Auf Schuleinweihungsfeiern werden nicht selten Abc-Schützen gesichtet, deren Schultüte größer ist, als sie selbst. Schließlich gab es einen geheimen Wettbewerb um die größte und schönste Tüte, auch wenn die Kinder weniger das Aussehen als der Inhalt interessierte.
Das Foto vom festlich gekleideten Kind, das seine Tüte umklammert, ist für die Ewigkeit gedacht und irgendwie auch ein Statussymbol. Aber was ist drin in der Tüte? Der Autor dieser Zeilen selbst kann sich an einen Zirkelkasten erinnern, den wohl die Großeltern beigesteuert hatten, sowie an einen Füllfederhalter und Patronen. Und daß er sich angesichts dieser gutgemeinten Dinge irgendwie betrogen fühlte, denn er hatte Matchbox-Autos, Indianerfiguren und viel mehr Süßigkeiten erwartet.
Schweres nach unten, Leichtes nach oben
Heutzutage, erfahren die Eltern am ersten Elternabend, ist das meiste Praktische und Nützliche ohnehin am ersten Schultag im Ranzen unterzubringen: also Schulhefte, Bleistifte, Buntstifte, Anspitzer, Radiergummi, Lineal, Füller, Turnschuhe, Brotbüchse und Getränkeflasche. Damit bleibt in der Zuckertüte viel Platz für Süßigkeiten wie Überraschungseier, Kaubonbons, Lutscher, Gummischlangen und Spielüberraschungen wie Springseil, Gummitwist, bunte Murmeln, kleine Plüschtiere, Kinderwecker, die erste Armbanduhr, Kritzel-Kratzel-Buch, Kinderpflaster, Memory, Spielfiguren, Seifenblasen, Sparbüchse. Vielleicht sogar ein Handy? Fragender Blick der Eltern zur Schulleiterin. Die lächelt: „Es gibt keine Verbote, packen Sie in die Zuckertüte Dinge, über die sich Kinder freuen.“
Hauptsache, es paßt alles in die Tüte und die wird am Ende nicht so schwer, daß die Kinder sie nicht tragen können. Auch darf nichts herausfallen oder durch das dünne Kreppapier oben stoßen. Die empfindliche untere Spitze der Tüte kann durch Bonbons gestärkt werden. Ansonsten gilt wie beim Rucksackpacken: Schweres kommt nach unten, Leichtes nach oben.
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