„Er gab die Stimmen der mythischen Vorzeit ebenso unreflektiert wieder wie das, was er von dem imaginären Geisterwesen der Natur in sein Ohr flüstern hörte.“ Mit diesen Worten beschrieb der finnische Kulturkritiker Sigurd Frosterus die Musik seines großen Landsmannes Jean Sibelius. Sieben Sinfonien, zehn sinfonische Dichtungen, eine Oper, Chorwerke und über 200 Klavierstücke umfaßt sein Œevre.
Herbert von Karajan und Leonard Bernstein zählten zu seinen Bewunderern und dirigierten mehrfach seine grandiosen, romantisch-düsteren Werke. Der Soziologe und Vertreter der „Frankfurter Schule“ Theodor W. Adorno hingegen bezeichnete Sibelius als den „schlechtesten Komponisten des Jahrhunderts“, einen Repräsentanten einer antimodernistischen Naturmystik. Wer also war dieser Mann, der derart polarisierte?
Ein finnischer Patriot von schwedischer Herkunft
Jean Sibelius wurde am 8. Dezember 1865 im finnischen Hämeenlinna als Sohn einer schwedischstämmigen Familie geboren. Mit drei Jahren verlor er seinen Vater, und dies Erlebnis mag auch Auswirkungen auf sein verinnerlichtes Wesen gehabt haben. In seiner Kindheit war Sibelius ein zunächst nicht gefördertes Naturtalent, das als 15jähriger Klavier und Violine zu spielen begann. Seine Vorliebe galt besonders Schubert und Beethoven, zunächst auch Wagner, von dem er sich später aber abwandte. Und: Schon als sensibel veranlagtes Kind war er von der Natur verzaubert und galt in der nüchternen protestantischen Umgebung als Tagträumer, der bei seinem Heimatort Hämeenlinna oft einsame Stätten aufsuchte.
Zunächst besuchte er das Musikinstitut in Helsinki, um anschließend von 1889 bis 1890 in Berlin zu studieren. In dieser Zeit bereiste er viele Zentren Europas, so Rom, Paris und Wien, wo er prägende Einflüsse der Musik Anton Bruckners empfing. In München inspirierten ihn Gemälde von Böcklin, Stuck und Klinger zu den späteren Kompositionen „En Saga“ und „Der Schwan von Tuonela“. Wieder nach Finnland heimgekehrt, heirate er Aino Järnefelt und arbeitete zunächst als Musiklehrer an der Universität Helsinki, betätigte sich aber auch als freischaffender Komponist. Große Bekanntheit erlangte er 1899 mit der Veröffentlichung seiner sinfonischen Dichtung „Finlandia“. Das Stück wurde schlagartig populär und galt vielen finnischen Patrioten als nationaler Hymnus in dem noch zum Russischen Reich gehörenden Großfürstentum. 1900 dirigierte er seine Werke auf der Pariser Weltausstellung.
Zwar notierte Sibelius 1912 in seinem Tagebuch „Wie ich dieses finnische Volk liebe. Wie nah es an meinem Herzen ist“, jedoch rechnete er sich nicht vollständig ihm zu. Schließlich hatte er schwedische Vorfahren. Überdies war Finnland als ein Teil des Zarenreiches auch russisch geprägt, und so lebte Sibelius in einem Helsinki, in dem man eine Melange aus diesen drei Nationen verspürte. Im nicht allzu fernen St. Petersburg dirigierte er 1908 sogar am Hofe der Familie des Zaren.
Ein Musiker zwischen Spätromantik und Moderne
Das Finnland der Jahrhundertwende war ein Land im kulturellen Aufbruch. „Die für das Profil der Sibelius-Generation wichtige Idee eines verlängerten Jahrhunderts stellte sich auch in der Musik als Einheit von Klassik (dem Hauptstil) und Romantik (einem Nebenstil) einschließlich des Impressionismus, Symbolismus, Naturalismus und Frühexpressionismus (Derivate) als eine große Epoche dar“, betont der Musikwissenschaftler Tomi Mäkälä in seiner Sibelius-Biographie. Der „Tondichter“ wandte sich dabei schon ab 1890 von konventionellen Streichquartetten ab und modernen Orchesterwerken wie „Kullervo“ oder „Die Oceaniden“ zu. Sein unverwechselbarer Stil der „reinen Musik“ entstand, die er als „reines, kaltes Wasser statt Cocktails“ charakterisierte. Und immer wieder waren es Natureindrücke oder Naturgeister der finnischen Mythologie, die ihn faszinierten.
Der Erste Weltkrieg bedrückte den mit der deutschen Kultur sympathisierenden Komponisten zutiefst. Er begann sich immer mehr in sein einsam gelegenes, 1904 erworbenes Holzhaus „Ainola“ bei Helsinki zurückzuziehen. Als im Oktober 1918 nach dem blutigen Bürgerkrieg zwischen Roten und Weißen letztere mit deutscher Waffenhilfe den Sieg errangen und Finnland zur Monarchie unter Prinz Friedrich Karl von Hessen proklamieren, gehört auch Sibelius zu den prominenten Unterstützern der Monarchie. Sie sollte freilich kurzlebig sein; mit dem Ende des Ersten Weltkriegs schwanden auch die Aussichten des deutschen Prinzen auf den finnischen Thron, und so erklärte Karl-Friedrich am 14. Dezember 1918 seinen Thronverzicht.
Sibelius betätigte sich in der neuen finnischen Republik nicht weiter, wenngleich er den Konservativen nahestand. 1929 schrieb er seine letzte Komposition, danach begann das „große Schweigen“ von Ainola. 1957 erklärte er einem Journalisten der Frankfurter Allgemeinen Zeitung, der ihn besuchte, daß der politische Zeitgeist jener Jahre ein wichtiger Grund für seine 20 Jahre währende Schaffenskrise war: „Diktatur und Krieg widern mich an. Der bloße Gedanke an Tyrannei und Unterdrückung, Sklavenlager und Menschenverfolgung, Zerstörung und Massenmord machen mich seelisch und physisch krank.“
Das Verdikt von Theodor W. Adorno
In den 1930er Jahren gehörten Sibelius’ Werke allerdings zu den beliebtesten Stücken im Repertoire deutscher Orchester. Und auch wenn Sibelius nicht mit den Nationalsozialisten sympathisierte, wurde ihm seine Popularität in jener Zeit zum Problem. Vor allem zog er sich den unversöhnlichen Haß von Theodor W. Adorno zu, der 1956 in einem berüchtigten Essay Sibelius als „den schlechtesten Komponisten des Jahrhunderts“ ablehnte. Ein Anwurf, auf den Sibelius übrigens nie reagierte.
Ein Chefideologe der „Frankfurter Schule“, Kommunist und Ziehvater der Achtundsechziger mußte solche Musik wohl auch hassen: Weil sich in ihr eine anti-modernistische und anti-aufklärerische Grundhaltung zeigt und in ihr das Archaische, die Natur, das Volkstümliche zum Klingen gebracht wird.
Obwohl zweifellos ein Künstler an der Grenze von Spätromantik zur Moderne, lehnte Sibelius Atonalität ab. Sibelius Musik ist in der Tat die totale Antimoderne – Gegensätzlicheres als Alban Berg oder Arnold Schönberg läßt sich kaum denken. Der Finne verstand das Komponieren als organischen, evolutionären, nicht dialektisch-logischen Vorgang. Und genau das macht auch den Zauber, die Schönheit seiner Musik aus. Seine Sinfonien und „Tondichtungen“ sind Lautmalerei, die die Natur wiedergeben sollen. Oft auf nur ganz sparsam skizzierten Grundmotiven bauen sich ein bisweilen schroffes oder melancholisches Pathos und eine äußerst eigenwillige Rhythmik auf.
So prachtvoll und kräftig seine ersten Stücke sind, so düster ist sein letztes großes Werk, die 1926 geschriebene Tondichtung „Tapiola“. In dieser Musik spürt man die Aura der nordischen Wälder – nicht romantisch durchsonnt, sondern ernst und bisweilen unheimlich: „In ihnen wohnt der Wälder großer Gott. Waldgeister weben in dem Dämmer“ beschrieb Sibelius in knappen Worten die Handlung. Mehr mußte zu dieser Musik auch nicht gesagt werden.
Am 19. September 1957 starb Sibelius. Einen Tag vor seinem Tod notierte er im Tagebuch, daß ein Zug Kraniche über sein Grundstück flog, „die Vögel meiner Jugend“, deren Schreie für ihn „Trompetenklänge“ waren: Ein Vogel trennte sich von der Gruppe und drehte wie zum Abschied eine Ehrenrunde über dem greisen Komponisten.