Es zählt wohl zu den Charakteristika unserer Spätzeit, daß sich alle Themen ideologisch polarisieren und die zunehmende Aufspaltung in somewheres und anywheres, also Verwurzelte und Ortsungebunde, auch vor der Kunst nicht haltmacht. Die neue Amazon-Prime-Serie „Die Ringe der Macht“, welche vom Ende des zweiten Zeitalters in Mittelerde handelt und somit eine Art Vorgeschichte zu Tolkiens Fantasy-Epos „Der Herr der Ringe“ liefert, ist hier keine Ausnahme.
J. R. R. Tolkien war, wie er selbst in Interviews und Briefen offen eingestand, schon fast die Rein-form des (katholischen) angelsächsischen Konservativen. Mit seiner enthusiastischen Liebe zur Geschichte des alten Nordwesteuropa, seinem unerschütterlichen Bekenntnis zum Christentum, seiner tiefen Zustimmung zu gewachsenen Solidargemeinschaften und nicht zuletzt seinem hochdifferenzierten und idealistischen ästhetischen Empfinden verkörpert Tolkien nahezu das Gegenteil all dessen, was heute politisch opportun ist. Nichtsdestoweniger – oder vielleicht gerade aus diesen Gründen – ist sein Œuvre heute beliebter denn je, füllt es doch jenes immense Vakuum aus, das in den Herzen vieler Europäer entstanden ist, seitdem ihre Zivilisation schrittweise ihre Seele aufgab.
Wie also das finanzielle Potential von Tolkiens Werk ausschöpfen, ohne seinem Geist zu folgen? Amazon macht es vor: Die neue Serie ist zwar oberflächlich an den von Tolkien in einigen wenigen Seiten der 1977 posthum veröffentlichten Sammlung „Das Silmarillion“ und der Anhänge vorgegebenen Rahmen angelehnt, bläht diesen aber durch unzählige neuerfundene Figuren und Handlungsstränge zu einem Monstrum von 50 Stunden auf und füllt die entstandene Geschichte mit einer Stimmung, die mehr oder weniger dem Gegenteil dessen entspricht, was dem Verfasser lieb und teuer war.
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Tolkiens Werk steht im Kontext der abendländischen Tradition
Ästhetisch zwar hier und da durchaus beachtlich (was sicherlich nicht zuletzt dem Mitwirken des Fantasy-Illustrators John Howe zuzuschreiben ist), wenn auch etwas unpersönlich, beschränkt sich die Handlung auf ein banales Hit-and-Run-Schema mit holzschnittartigen Figuren, Elben, Zwergen und Hobbits, deren Charakterisierung einem schlechteren „Schwarzes-Auge-Spieleabend“ entsprungen zu sein scheint, und peinlich gestelzten Dialogen – eine Kombination, die beim Zuschauer keinerlei Wunsch weckt, zu wissen, wie es beim nächsten Mal weitergeht. Ohne das Intro könnte es sich weitgehend auch um Partien aus „Wheel of Time“, „The Shannara Chronicles“ oder dem Rollenspiel „Dungeons and Dragons“ handeln – selbst „Game of Thrones“ hat mehr Persönlichkeit.
Zu dieser offensichtlichen Unfähigkeit, eine Geschichte zu erzählen, ohne sie in Spezialeffekten oder Banalitäten zu ertränken, kommt auch ein tiefes Unverständnis, ja vielleicht sogar eine gewisse Verachtung für die Besonderheit von Tolkiens Werk. Nicht nur, daß die meisten der Darsteller sich offen als linksliberale Aktivisten bezeichnen, wir lesen auch häufig genug die verräterische Forderung, daß jede Epoche „ihre eigene Version“ von Tolkien und seinen Erzählungen bieten müsse und Eingriffe in Geist wie Inhalt berechtigt seien. Dies ist natürlich im Prinzip nicht falsch, denkt man etwa an die zahlreichen Varianten, mit denen die großen Mythen immer wieder aufgegriffen und abgewandelt worden sind (nicht zuletzt von Tolkien selbst), ist aber letztlich nur eine verräterische Umschreibung für etwas ganz anderes.
Tolkien is turning in his grave
— Elon Musk (@elonmusk) September 5, 2022
Denn auf der einen Seite geht es den Produzenten offensichtlich darum, Tolkiens Werk, das nur im Kontext der abendländischen Tradition, die es ganz bewußt zusammenführt und transzendiert, überhaupt begriffen und wiedergegeben werden kann, gewissermaßen forciert zu „globalisieren“ und dem politisch-korrekten Gutdenk der Gegenwart zu unterwerfen. Resultat sind jene lächerlichen „People of Color“-Quoten bei Elben, Zwergen, Menschen und Hobbits, die durchweg schwachen, zaudernden oder intrigierenden männlichen Charaktere und natürlich die Einführung unzähliger tough independent women – und es schaudert einem schon vor dem Moment, wo der machtbewußte König Ar-Pharazôn aller Wahrscheinlichkeit nach als rechter Populist und Elendil als linker Antifaschist präsentiert werden …
„Die Ringe der Macht“ offenbart den Narzissmus der Woken
Auf der anderen Seite ist die vermeintliche Forderung nach einem „Tolkien für unsere Zeit“ insoweit unehrlich, als die dahinterstehende woke Ideologie sich ja eben nicht als eine Denkschule unter vielen anderen gleichwertigen begreift, sondern sich vielmehr zum moralischen Gipfelpunkt der Weltgeschichte stilisiert und jegliche frühere (oder konkurrierende) Sicht auf Mensch, Welt und Gott als überholt, rechts, gefährlich, patriarchalisch, toxisch usw. diskreditiert – also selber gerade nicht jene Toleranz für frühere Darstellungsweisen übt, die sie für die eigene Position radikal einfordert.
Es mag hart an der Grenze des Sagbaren sein, aber so surreal, absurd, unfreiwillig komisch und technisch deaströs die verloren geglaubte spätsowjetische Verfilmung des „Herrn der Ringe“ von 1991 auch war – sie atmet trotz aller offensichtlichen Verfehlungen mehr Liebe zur Reinheit und Unschuld des Tolkienschen Werks als das glatte Machwerk Amazons, welches am Wesentlichen vorbeizielt.