Das blieb bis heute einmalig. Ein demokratischer Staat läßt mehr als einen Monat lang Redaktionsräume mit Polizisten besetzen und versucht, journalistische Arbeit zu verhindern. Auch fünfzig Jahre nach der Spiegel-Affäre ist dieses Ereignis nach wie vor der Markstein einerseits für den Angriff auf die Pressefreiheit und letztlich auch für deren Festigung in Deutschland.
Wegen des Artikels „Bedingt abwehrbereit“, der am 10. Oktober 1962 in dem Hamburger Nachrichtenmagazin erschienen war, griff die Bundesrepublik Deutschland zu Mitteln, die seitdem nie wieder zum Einsatz kamen: reihenweise Verhaftungen von Journalisten, Schließen einer Redaktion. Es fehlte nur das Verbot des Spiegel.
Allerdings ist die Presse inzwischen auch deutlich staatstragender geworden und hat sich fulminante Kritik am Regierungshandeln abgewöhnt. Die loyale Berichterstattung über die Politik von Regierung und Opposition zur Euro-Krise, die Einrichtung von ESM und Haftung für Staatsschulden anderer Länder mag als ein Beleg für das Abhandenkommen der sogenannten vierten Gewalt dienen. Heute führen fast nur noch persönliche Verfehlungen zu Enthüllungen und dann zu Rücktritten, nicht aber politische Fehlentscheidungen.
„Wir haben einen Abgrund von Landesverrat im Lande“
Anfang der sechziger Jahre war dies anders. Der Artikel des stellvertretenden Spiegel-Chefredakteurs Conrad Ahlers unterstellte der Bundeswehr, nicht in der Lage zu sein, einen Angriff des Warschauer Paktes mit konventionellen Waffen abwehren zu können. Im Grunde sprach aus der akribischen Zusammenfassung vieler militärischer Details die Sorge um das demokratische Nachkriegsdeutschland. Dem von Rudolf Augstein geleiteten Magazin wird denn auch bis heute von linken Kritikern vorgeworfen, zur damaligen Zeit zu patriotisch – ja, sogar nationalistisch – eingestellt gewesen zu sein.
In der Tat arbeiteten mit Horst Mahnke und Georg Wolff sogar ehemalige ranghohe SS-Offiziere beim Spiegel. Das Magazin war es auch, das drei Jahre vor der nach ihm benannten Affäre einen Artikel über den Reichstagsbrand veröffentlichte, der die Geschichtsschreibung entscheidend beeinflußte und veränderte. Nicht die Nationalsozialisten hätten 1933 das deutsche Parlamentsgebäude angezündet, sondern tatsächlich der Einzeltäter Marinus von der Lubbe.
Kontakte zur Franco-Regierung
Und so unterstellt das von der Bundeszentrale für politische Bildung herausgegebene Heft Aus Politik und Zeitgeschichte aktuell zu Recht folgenden Hintergrund der unangemessenen Aktionen gegen den Spiegel: „Die Rivalität zwischen den Alphatieren Strauß und Augstein, die 1957 bei einem Besuch des Ministers im Haus des Herausgebers trotz ihrer Harmonie im Nationalgefühl nicht hatten zueinander finden können, war der Motor der Affäre.“
In der Tat versuchte der legendäre CSU-Politiker und damalige Verteidigungsminister Franz Josef Strauß, seinem Erzfeind Augstein massiv zu schaden. Er stand hinter den Repressionen gegen das Presseorgan und dessen Herausgeber, die 16 Tage nach der Veröffentlichung des Textes begannen. Augstein saß dreieinhalb Monate in Untersuchungshaft.
Zunächst hatte der Bayer behauptet, mit der Sache „nichts, im buchstäblichen Sinne nichts“ zu tun zu haben. Schließlich mußte er einräumen, persönlich für die Festnahme des im Urlaub befindlichen Autors Conrad Ahlers in Spanien gesorgt zu haben. Dabei ließ er seine Kontakte zum spanischen Diktator Franco spielen. Sein Parteifreund, Bundesinnenminister Hermann Höcherl, distanzierte sich davon überdeutlich, indem er Strauß’ Verhalten „etwas außerhalb der Legalität“ nannte.
Erste Studentendemonstrationen
Und so ging der Schlag gegen den Spiegel komplett nach hinten los. Aus Protest gegen den Verteidigungsminister traten am 19. November alle fünf FDP-Minister zurück. Zu diesem Zeitpunkt sollte die Durchsuchung der Redaktionsräume noch sechs Tage andauern. Die Regierung Konrad Adenauer geriet in eine schwere Krise. Der Bundeskanzler selbst hatte Strauß vertraut und sich noch vor dem Rücktritt der liberalen Regierungsmitglieder im Bundestag sehr weit aus dem Fenster gelehnt: „Wir haben einen Abgrund von Landesverrat im Lande“, behauptete er in einer tumult-artigen Fragestunde.
Auf den aus dem Plenum kommenden Zwischenruf: „Wer sagt das?“ entgegnete er: „Ich sage das!“ Damit hatte die Angelegenheit Konrad Adenauer erreicht. Im Zusammenhang mit der Spiegel-Affäre erklärte sich der Kanzler bereit, im Oktober 1963 zurückzutreten. Die FDP und Teile der Union hatten auf einen Abschied gedrängt. Der Eklat um den Spiegel kam den Kritikern aus den eigenen Reihen gelegen, um den „Alten“ endgültig loszuwerden.
Und die Affäre beschleunigte andere gesellschaftliche Prozesse: Sechs Jahre vor 1968 gingen erstmals massenhaft Studenten auf die Straße, um für die Pressefreiheit und gegen die Regierung zu demonstrieren. Andere Medien und Presseunternehmen solidarisierten sich mit dem Spiegel. Dessen Redakteure durften ihrer Arbeit in den Räumen des Springer-Verlages, der Zeit, des Stern und der Hamburger Morgenpost fortsetzen sowie die dortige Infrastruktur nutzen. So konnte das Nachrichtenmagazin trotz der wochenlangen Polizei-Blockade weiterhin erscheinen.
Artikel beruhte gar nicht auf Geheiminformationen
Im Konflikt mit der schier übermächtigen Regierung gewann es zahlreiche Sympathien und festigte seinen bis heute andauernden Ruf, das „Sturmgeschütz der Demokratie“ zu sein. Von den Vorwürfen selbst blieb nichts übrig. Der Bundesgerichtshof ließ die Anklagen der Bundesanwaltschaft gegen die Journalisten gar nicht erst zu – ein Desaster für die Ermittler und die Bundesregierung.
Der inkriminierte Artikel beruhte nicht einmal auf geheimen Informationen, die aus dem Ministerium oder der Bundeswehr durchgestochen worden waren. Conrad Ahlers hatte lediglich anläßlich des Nato-Manövers „Fallex 62“ das westdeutsche Verteidigungskonzept in Frage gestellt. Dazu dienten ihm die Ergebnisse dieser militärischen Übung und kleine Texte, die in der Vergangenheit erschienen waren.
Tiefer Einschnitt in die Pressefreiheit
Letztlich stellte der Bericht nichts anderes dar als eine Conclusio des berühmten Spiegel-Archivs, die Strauß enorm verärgerte. In seiner Wut auf Augstein reagierte der CSU-Politiker völlig über. Um die Koalition und seinen Kanzler zu retten, mußte er letztlich sein Amt niederlegen – nur etwas mehr als einen Monat nach Beginn der Durchsuchungen in Hamburg.
Die Spiegel-Affäre bleibt bis heute ein Einschnitt in das Verhältnis Politik und Presse. Staatliche Maßnahmen wie damals sind nicht mehr denkbar. Insofern hat die Überreaktion nicht nur den Spiegel, sondern nachhaltig auch die Pressefreiheit in Deutschland gestärkt. Jetzt müßte sie nur noch genutzt werden.
JF 41/12