„Eines der größten unerklärlichen Wunder der Menschheitsgeschichte besteht darin, daß die geschriebene Philosophie in verschiedenen Teilen der Welt mehr oder weniger gleichzeitig und völlig unabhängig voneinander entstanden ist.“ So beginnt der britische Philosoph Julian Baggini seine globale Geschichte der Philosophie mit dem Titel „Wie die Welt denkt“.
Er bezieht sich dabei auf den deutschen Philosophen Karl Jaspers (JF berichtete), der in seinem Buch „Vom Ursprung und Ziel der Geschichte“ die Epoche von etwa 800 bis 200 vor Christi als „Achsenzeit der Weltgeschichte“ bezeichnete. Nach Jaspers war es die Zeit, als in den Upanischaden, im Zoroastrismus, im Konfuzianismus und in Griechenland zum ersten Mal genuin philosophische Fragen gestellt wurden: Wie kann ich die Welt erkennen? Wie ist die Welt beschaffen? Wie soll ich mich in dieser Welt verhalten und welche Rolle kommt mir in dieser Welt zu?
Die Antworten, die die philosophischen Systeme des chinesischen, indischen, islamischen und europäischen Kulturkreises auf diese Fragen geben, differieren allerdings beträchtlich, und zwar nicht nur interkulturell, sondern auch innerhalb des eigenen Kulturkreises. Es ist der Anspruch des vorliegenden Buches, den Leser wenigstens ansatzweise mit dieser Vielfalt der Weltentwürfe bekannt zu machen und zwar so, wie man einen Freund jemandem vorstellt und dabei hofft, daß sich die Bekanntschaft in Zukunft vertiefen möge. Außerdem möchte der Autor die Philosopheme der außereuropäischen Kulturen nicht nur lexikalisch beschreiben, sondern auch auf ihre kulturübergreifende Gültigkeit hin befragen.
Bei Konfuzius steht die Selbstkultivierung im Zentrum
So entfaltet der Autor auf dem Hintergrund einer bemerkenswerten Belesenheit im Hauptteil des Buches die Philosophie der indischen, chinesischen, islamischen, westlichen und teilweise auch der schriftlosen Kulturen der Welt – allerdings ohne exakt zwischen religiösen und philosophischen Thesen zu trennen, weil eben diese Trennung etwas „Eurozentrisches“ hat, vor dem der Autor seine Leser gern bewahren möchte.
Stattdessen nimmt Baggini den Leser an die Hand und führt ihn über erkenntnistheoretische, metaphysische und ethische Pfade direkt ins Unterholz der weltweiten Philosophie zur indischen „Pratyaksha“, zur aristotelischen „Phronesis“, zum chinesischen „xido“ und vielem anderen mehr, was dem Leser, gelinde gesagt, einiges abverlangt. Wer dabei ins Schleudern gerät, kann sich immerhin an den abschließenden Kapiteln orientieren, in der Baggini die großen philosophischen Systeme der Welt noch einmal prägnant zusammenfaßt. Diese Synopse gehört zu den lesenswertesten und prägnantesten Teilen des Buches.
Demnach steht im Mittelpunkt der chinesischen Philosophie die konfuzianistische Lehre von der Tugend durch strenge Selbstkultivierung. Diese Selbstkultivierung wird durch Riten verinnerlicht, so daß das Gute zur zweiten Natur des Menschen wird.

In Indien strebt man nach Erlösung
Eine absolute Wahrheit interessiert den Chinesen nicht, es geht vielmehr um das richtige Verhalten des Einzelnen innerhalb übergreifender Gemeinschaften. Auch das Göttliche spielt im Chinesischen keine dem westlichen Denken vergleichbare Rolle. Das religiöse Gefühl findet seinen Ausdruck eher in der Ehrfurcht vor den Vorfahren und dem Gefallen an der Natur.
In der indischen Philosophie steht dagegen die Frage nach der Erlösung im Vordergrund es Denkens. Baggini nennt das den „soteriologischen Fokus“. Diese Erlösung kann nur im schrittweisen Rückzug des Einzelnen aus der Welt über unendlich viele Stufen erreicht werden, wobei es immer wieder zu Rückschlägen und Fehlverhalten kommt, das durch das ontologische Faktum des Karmas sanktioniert wird.
Der Koran setzt strenge Grenzen
Von einer vergleichbaren philosophischen Fülle kann im islamischen Kulturkreis nur mit Einschränkungen die Rede sein. In ihm sind der Philosophie durch die absolute Geltung des Korans strenge Grenzen gesetzt. Dem philosophischen Denken bleibt nur die Aufgabe einer vorsichtigen Interpretation von Spielräumen, die im Koran nicht ausformuliert wurden.
In der westlichen Kultur dagegen geht es um die Wahrheit durch Vernunft, wobei vernünftig zu argumentieren heißt, „Gründe zu liefern, über die dann diskutiert werden kann“. Der große Vorteil dieser Ansatzes besteht in seiner Intersubjektivität und damit in der Möglichkeit, Widersprüche und Aporien klar zu benennen und aus dem Weg zu räumen. In keiner anderen philosophischen Richtung wird dem Individuum eine derartige Autonomie zugebilligt wie im westlichen Denken, was allerdings bestimmte Probleme der Soziabilität hervorruft, die in anderen Kulturen in dieser Form nicht bestehen.
Die Moral muß erträglich sein
Angesichts dieser Verschiedenheit drängt sich abschließend die Frage auf: Ist eine universelle Philosophie möglich? Darauf gibt der Autor eine überraschende Antwort. Eine Synthese ist unmöglich, sagt Baggini, nicht aber eine selektive Inanspruchnahme einzelner Philosophiekomponenten, die wie die Kanäle eines „Mischpults“ funktionieren.
„Fast überall in der Welt findet man die gleichen Kanäle: Unparteilichkeit, Regeln, Konsequenzen, Tugend, Gott, Gesellschaft, Autonomie, Handlungen, Absichten, Harmonie, Gemeinschaft, Zugehörigkeit und so weiter. Die Unterschiede zwischen den Kulturen ergeben sich größtenteils aus der Lautstärke dieser Kanäle. Normalerweise ist kein Kanal komplett ausgeschaltet, aber manchmal – was beispielsweise den Gottesbegriff betrifft – ist er überhaupt nicht vorhanden.“
Genau wie im Mischpult paßt nicht immer alles zusammen, schreibt Baggini, deswegen kommt es drauf an, die Regler so einzustellen, daß sich eine erträgliche „moralische Musik“ ergibt. Das Lauschen dieser Musik anderer Kulturen erlaubt uns, so Baggini, die Qualität unserer eigenen moralischen Musik zu bedenken.
Manche mögen Karma, manche mögen die Hölle
Dieses einprägsame Bild führt aber in die Irre. Es macht aus den Philosophien der Welt einen Gemischtwarenladen, in dem sich jeder sein philosophisches Einkaufskörbchen zusammenstellen kann. Manch einem gefällt das Konzept des Karmas besser als die Idee der Hölle, ein anderer kann sich für die chinesische Harmonievorstellung erwärmen.
Viele erkennen gerade vor dem Hintergrund anderer philosophischer Theorien die Vorzüge des westlichen Denkens, das, nebenbei bemerkt, in dem vorliegenden Buch etwas unter Wert verkauft wird. Außerdem suspendiert diese Beliebigkeit den eingangs formulierten Anspruch des Autos, die Philosophien der Welt nicht nur lexikalisch, sondern philosophisch-analytisch zu betrachten. Da dies nicht wirklich geschieht, bietet der Autor seinen Lesern nicht wirkliche Philosophie, sondern „nur“ eine umfangreiche Kulturgeschichte des Denkens, was ja auch nicht wenig ist.