Das Teilen von Inhalten, die man für wert erachtet, anderen Menschen mitgeteilt zu werden, gehört zu den wichtigsten Kulturtechniken des Internetzeitalters. Und auch wenn dieses Buch von der digitalen Welt gefühlt so weit entfernt ist wie die Erde vom Mond, ist es ihm doch in diesem Punkt ganz nah.
Etwas mit anderen zu teilen, das er während seines Befaßtseins mit der geistig-literarischen Welt entdeckt, das seine Seele zum Schwingen oder etwas in ihm zum Klingen gebracht hat, im günstigsten Fall ist es sogar der Lösungsschlüssel zu einer lange Zeit nicht aufgegangenen Rechnung: darum geht es Lorenz Jäger in seinem Buch „Die Kunst des Lebens, die Kunst des Sterbens“, einer an Anschauungsobjekten überreichen Reise per Anhalter durch die Literatur- und Geistesgeschichte.
Sein Verfahren ist ein assoziativer Subjektivismus auf dem Fundament internationaler Klassiker aus Literatur, Philosophie und Religion, zu dem nur ein Mensch privilegiert sein kann, dessen aparte Belesenheit, um eine Formulierung aus dem 17. Kapitel aufzugreifen, in Staunen versetzt. Wo anfangen und wo enden bei der Besprechung eines Buches, das eine solche Fülle von Primärmaterial verarbeitet hat?
Wie umgehen mit der eigenen Zeitlichkeit?
Am besten dort, wo es der Autor selbst für passend gehalten hat: Mit dem Gilgamesch-Epos aus dem zweiten vorchristlichen Jahrtausend, dem auf Tontafeln festgehaltenen Zeugnis der frühesten bekannten Hochkultur in Mesopotamien, und dem biblischen Schöpfungsbericht geht er am weitesten zurück in die Kulturgeschichte der Menschheit. Mit dem Blick auf einen neuen Himmel und eine neue Erde in der Zukunftsvision des neutestamentlichen Sehers Johannes und den Worten Christi vor seinem Kreuzestod findet er den passenden Abschluß für seine Betrachtungen zur Endlichkeit und den in dieser Endlichkeit verborgenen Spuren des Überzeitlichen, um die es dem früheren FAZ-Redakteur immer wieder geht.
Wie umgehen mit der eigenen Zeitlichkeit, dem Bewußtsein einer fundamentalen Hinfälligkeit, die dem Gläubigen als Geschöpflichkeit vor Augen steht und dem Materialisten als Materialermüdung? Jeder Atemzug, den ich auf diesem Planeten tue, bringt mich dem eigenen Verscheiden einen Atemzug näher.
Diejenigen Geschichten, denen der Autor sich etwas ausführlicher widmet, hinterlassen den tiefsten Eindruck. So etwa die wunderbare Parabel von den drei Bergleuten aus dem Schatzkästlein der Brüder Grimm. Die Sage handelt von drei frommen böhmischen Bergwerksarbeitern, die verschüttet, in der Not aber von Gott wundersam bewahrt werden.

Der Mensch verfügt nicht über sein Leben
Aus dem Dunkel des Bergwerks richten sie je einen letzten Wunsch an den Ewigen: nur noch einmal das Tageslicht sehen, nur noch einmal mit der eigenen Familie zu Tisch sitzen, nur ein einziges glückliches Jahr noch friedlich mit der Ehefrau verbringen. Alle drei Wünsche werden gewährt, aber mehr auch nicht: Die drei Bergarbeiter werden gerettet, doch sie sterben, unmittelbar nachdem ihre letzten Wünsche erfüllt worden sind.
Lorenz Jäger bietet dafür eine Erklärung an, die so gar nicht in die Postmoderne passen will, und weil sie die Denkrichtung des Autors so wunderbar repräsentativ auf den Punkt bringt, sei hier aus ihr zitiert: Die Sage drücke aus, daß der Mensch über sein eigenes Leben nicht verfügt und „die einzige Instanz, die dem Faktum ‘Leben’ gegenüber irgendwie von Belang sein kann“, Gott sei.
Der Glaube an einen Schöpfer und Nehmer des Lebens verweist, so drückt Jäger es aus, auf „eine Intuition, die besagt, daß das Leben nicht unser Eigentum ist wie eine Sache“. Es gehöre „einer anderen Ordnung an“ und sei nicht, wie es Materialisten sehen möchten, „Resultat eines menschlichen Arbeitsprozesses“.
So müßte die Kunst des Sterbens aussehen
Was daraus folgt für aktuelle Streitfragen wie Todesstrafe, selbstbestimmtes Sterben, Abtreibung und die Entkoppelung von Sexualität und Fortpflanzung im Gefolge Sigmund Freuds, behandelt er in den Kapiteln „Leben schenken“ und „Das Leben nehmen“. Positivismus und Moderne bescheinigt er, „die reflektierende Distanz zur herrschenden Norm gemacht“ zu haben. Dem stellt er nicht dogmatisch-exklusiv die christliche Erlösungshoffnung gegenüber, auch wenn sie bei ihm hohen Stellenwert genießt.
Gern sieht er das Überzeitliche auch in Stimmungen, Naturerlebnissen oder spontanen Sinneseindrücken am Werk wie in Brigitte Kronauers Abschlußgeschichte „Grünewald“ aus „Das Schöne, Schäbige, Schwankende“, in der die Betrachtung des Isenheimer Altars zum Schlüsselerlebnis wird (Kapitel 18). So, wie von Brigitte Kronauer geschildert“, bilanziert der Autor im vorletzten Kapitel seines gehaltvollen Buches, „müßte eine Kunst des Sterbens aussehen: bewußt und wach angesichts des Kommenden, ohne Illusionen und Bitterkeit, die Gedanken auf das einzige noch Wesentliche gerichtet.“
Vor allem geht es aber natürlich um die großen Zeugnisse der Geistesgeschichte: die griechische Götter- und Sagenwelt, wie sie Ilias und Odyssee ausbreiten, Sokrates und Platon und immer wieder natürlich die Bibel. Dem Drama um König Saul widmet Jäger einen längeren Abschnitt. Homer, Hesiod, Seneca, aber auch die großen Entzauberer Freud, Feuerbach, Schopenhauer, Sartre kommen vor und mit Marcel Proust, Thomas Mann und James Joyce die drei womöglich wirkmächtigsten Autoren ihrer drei verschiedenen Landessprachen in der Literatur des 20. Jahrhunderts.
Auf Kafkas Leben fiel früh der Todesschatten
Die vom Impressionismus beeinflußten Romanciers waren sowohl Meister der Zeitdehnung als auch Meister des literarischen Diskurses zum Thema Zeit. Man denke etwa an den „Zauberberg“.
Das Manko der vielen Beispiele, Anekdoten, Zitate, die der 73jährige verarbeitet hat, ist natürlich: Wer kann sich die vielen Aha-Erlebnisse und Einsichten merken, die ihm die kleinen, gesprächs- und literaturkreistauglichen Appetithäppchen verschaffen möchten? Alles, was einem in dem kurzen, vergänglichen Moment der Lektüre einleuchtet und in diesem Augenblick den eigenen Einsichts- und Wissensschatz vermehrt, wird selbst binnen kurzem zu genau dem Raub der Zeit, der das durchgehende Thema dieses luziden Büchleins ist.
Einprägsamer als viele der kürzeren Kapitel ist Jägers Exkurs „Vorahnungen der Dichter: Von Georg Büchner zu Ernst Jünger“. In diesem mit Abstand längsten Kapitel seiner Reflexionen geht der Autor auf verblüffende Parallelen zwischen dem Sterben (oder der Langlebigkeit) bekannter Schriftsteller und dessen Widerschein im eigenen Werk ein. Büchner, sein Zeitgenosse Wilhelm Hauff, Kafka und Brecht, in deren Erdendasein früh der Todesschatten fiel, werden den Methusalems unter den Dichtern und Denkern gegenübergestellt: Claude Lévi-Strauss, Hans-Georg-Gadamer und Ernst Jünger, in deren Biographien der studierte Soziologe und Philologe so etwas wie eine Anlage zur Überzeitlichkeit am Werk sieht.
Aber wie sollte es anders sein?
Auch die Kinderbuchautorin Cornelia Funke, die in Jägers Buch nicht vorkommt, machte eine Erfahrung, die ihr im Rückblick mysteriös vorkam, indem sie als Schriftstellerin bereits das Trauma eines schweren Verlustes beschrieb, ehe ihr Ehemann an Krebs erkrankte und bald darauf verstarb. Greift da also etwas aus der Sphäre des Geistigen, Metaphysischen in unsere Zeitlichkeit hinein?
Es ist eine bereichernde Erfahrung, gemeinsam mit Lorenz Jäger zum Spurenleser zu werden und solchen chiffrierten Botschaften an die an Raum und Zeit Gebundenen nachzuspüren. Vieles jedoch, was nicht in anschaulicher Breite erörtert werden kann, weil das den Rahmen dieses feinen Büchleins gesprengt hätte, wird schon bald durchs Sieb des Vergessens gefallen sein. Aber wie sollte es anders sein bei einem Buch, das sich mit der Vergänglichkeit von allem beschäftigt, was ist?