Zwischen bewaldeten Moränenhügeln und dem steinigen Uferstreifen schlängelte sich die Straße an jenem See entlang, den werdende Bauherren genüßlich „das Filetstück des Voralpenlandes“ nannten. Hinter Zäunen und Hecken tauchten Landhäuser auf, Gärten, Bootshütten und kleine Häfen. Garagen waren in die Hänge gegraben, Mülltonnen warteten geduldig auf ihre Entleerung, Ausweichstellen ermöglichten den Gegenverkehr, Felsbrocken lauerten am Straßenrand, um Falschparkern den Schneid abzukaufen.
An beiden Enden verlor sich die Straße in einem Erholungsgelände aus Liegewiesen und Parkplätzen. In der Badesaison fingen diese Anlagen den Strom der sonnenhungrigen Städter ab, ehe er sich in die Ortschaften ergießen konnte. Am Eingang zum Schloßpark – die Votivkapelle für den ertrunkenen König war das Wahrzeichen des Ostufers – sorgte ein stets verschlossenes Tor mit schmalem Fußgängerdurchschlupf dafür, daß Autofahrer aus dem Uferbereich verscheucht wurden, selbst wenn sie eine Anliegererlaubnis für das Befahren der Straße besaßen. Straßen dienen im allgemeinen dem wachsenden Verkehrsaufkommen, diese nicht. Sie stak wie ein Stachel im sozialen Fleisch der automobilen Gesellschaft.
Südlich vom Schloßpark traf man noch auf Landhäuser alten Stiles, die sich umstandslos in die Wald- und Seenlandschaft einfügten. Im Norden dagegen blickten funkelnagelneue Prominentenvillen hochnäsig über Thujenhecken, Domizile jener Schönen und Reichen, deren Affären die Herzen der Leser der Boulevardpresse und der Lifestylemagazine höherschlagen lassen.
Manch einer plante, die Kuh fliegen zu lassen
In aller Stille hatten sich hier auch schwer definierbare, eher zwielichtige Gestalten eingefunden, die die Öffentlichkeit scheuten und sich ein Leben ohne Bodyguards nicht vorstellen konnten. Die in letzter Zeit „Hereingeschneiten“ bildeten eine bunte Mischung, die nur deshalb nicht zu einer explosiven wurde, weil alle ein ungeschriebenes Gesetz beachteten: man kennt einander nicht, man hilft einander nicht, jeder sorgt für sich selber.
Ein Gesetz, das der um sich greifenden Nomaden-Mentalität der Globalisierung besser entsprach als die in bodenständigeren Zeiten geschätzte gute Nachbarschaft. Außer der rechtzeitigen Teilnahme an der Bodenspekulation hatte jeder einen individuellen Grund, um einem Immobilienerwerb am See näherzutreten.
Heimatgefühl und Verwurzelungsstreben zählten nicht dazu. Dem einen war es um eine goldgeränderte Visitenkarte zu tun, dem anderen um eine geographische Schlüsselstellung für diskrete Operationen in Süd- und Südosteuropa, ein dritter hatte vor, in lauen Sommernächten bei Grillfesten „die Kuh fliegen zu lassen“, ein vierter parkte Frau und Kinder auf dem Lande, damit ihm niemand in die Karten schauen konnte. Chacun à son goût.
Er war auf der Suche nach dem Ort seiner Kindheit
Am frühen Morgen eines noch kühlen Juni-Tages kam ein einsamer Radler des Weges. Tryphon Karbunkel, der als Ruheständler frei über seine Zeit verfügen konnte, besaß zu dieser Stunde Bayerns schönsten Spazierweg, wie die Straße zum Verdruß der Autofahrer genannt wurde, für sich allein. Noch lag die Straße im Dunkel der Moränenhänge und der Waldstücke, während die Sonne schon das gegenüberliegende Ufer beschien, an dem namhafte Villen und beklagenswerte Bausünden gleichermaßen strahlend weiß aus der Waldkulisse hervortraten.
Die Masten der ankernden Segelboote warfen lange Schatten, und mit Schutt beladene Container standen friedvoll wie ausgebrannte Panzer am Straßenrand, als ob die Schlacht um den Baugrund längst geschlagen sei. Wenn nicht gerade Regenwolken über den See zogen und Pfützen die Hosenbeine bespritzten, nutzte Tryphon Karbunkel die frühe Stunde. Wenig später würden Baufahrzeuge und Lieferwagen, Inline-Skater und mit aerodynamischen Helmen und grellbunten Trikots sich auf der Tour de France wähnende Radsportler die eben noch so friedvolle Straße gründlich verschandeln.
Das winzige Büro in der Kreisstadt war für den radelnden Karbunkel nur ein Vorwand. Er kam, weil er auf der Suche war nach dem Ort seiner Kindheit, nach seinen Wurzeln, nach seiner Heimat. Über vierzig Jahre war er verschollen gewesen. Vom Verschwundenen wußte niemand etwas, außer dem Safe einer Regierungsorganisation in Washington D. C. Erst hatte Karbunkel erkannt, daß er sich fügen müsse, weil er keine Wahl hatte. Dann war er aus eigenen Stücken in der ihm übertragenen Rolle aufgegangen.
Die Straße war anders
Mit dem Erreichen der Altersgrenze war er endlich frei geworden. Er kehrte an seinen Geburtsort zurück, bezog sein Elternhaus und nahm seinen Geburtsnamen wieder an. Karbunkel radelte die Straße entlang und frug sich, was dieser verparkte, verschilderte, in das verdrossene Grau des Asphalts getunkte Verkehrsweg mit dem hellen und heiteren Band zu tun hatte, das sich in seiner Jugend durch die bis zum Seeufer reichenden Wälder und Wiesen geschlungen hatte. Damals, inmitten der Wirren der Kriegs- und Nachkriegsjahre, glaubte Karbunkel, die Straße sei das, was bleiben und sich niemals dem Druck des Vorübergehenden fügen werde, der Inbegriff seiner Heimat. Er war sich dessen nun nicht mehr so sicher.
Die Straße war vormals ein versteckter Pfad, später ein abgelegener Fuß- und Fahrweg gewesen, von niemand beachtet, bis eines Tages der bayerische König Ludwig II. ihren geringen Verkehrs-, jedoch potentiell hohen Freizeitwert entdeckte. Ludwig hatte schon in jungen Jahren den Geschäften des Landes und den Pflichten des Amtes entsagt, um sich selbst zu verwirklichen. Er schuf eine private Erlebniswelt, ja im Laufe der Jahre einen ganzen Freizeitpark nur für eine, seine Person, was posthum aus ihm den weltweit bekannten Märchenkönig und unübertroffenen Magneten des Fremdenverkehrs gemacht hatte; die Straße stand am Anfang dieser merkwürdigen Vision.
Noch nach vielen Jahren bewahrte sie etwas vom Geheimnis ihrer ursprünglichen Prägung. Die Straße war anders.
Die Ostufler schätzten am Westufer nur eines
Bei Ausfahrten entlang des Seeufers kamen der Königskutsche kaum Fahrzeuge entgegen. War es einmal der Fall, stieg Ludwig aus und ging zu Fuß weiter, während die Fahrzeuglenker das durch die Enge der Straße bedingte Verkehrsproblem zu lösen versuchten. Ludwig verließ den Wagen nicht ungern, denn er liebte es, auf dem Wege die eine oder andere Buche zärtlich zu umarmen.
Die Freude über die schöne Fahrt, bei der ihn niemand in seinem Majestätsein störte, schlug sich in allerhöchsten Gnadenbeweisen nieder. Er schenkte dem Wirt zum Dank für einen extragroßen Fisch ein Stück Seeufer und ließ der Schustersfrau ihren durch einen harten Winter lädierten Liliengarten wieder herrichten. Auch ein oft genannter Historienmaler aus der vom Monarchen gemiedenen Residenzstadt nahm alleruntertänigst ein Stück Grund entgegen, um am Obersee die erste jener bescheidenen Villen zu errichten, in denen sich ein besonderer Menschenschlag ansiedelte.
Es waren Künstler, Gelehrte und Privatiers, denen die berauschende Schönheit der Natur und die stille Abgeschiedenheit mehr bedeuteten als die zivilisatorischen Bequemlichkeiten des gegenüberliegenden Ufers mit seinen stadteinwärts dampfenden und pfeifenden Eisenbahnen. Die Ostufler schätzten am Westufer nur eines, die sich im See spiegelnde Farbenpracht der untergehenden Sonne. Ohne Neid blickten sie hinüber zu den Villen der Kommerzienräte, sprachen abschätzig vom „Protzenhausen“ da drüben und fanden ihr Sommerglück hinter verfallenen Zäunen und unter den Laubdächern knorriger Obstbäume, die die Fischerhäuser umstanden.
Es folgte Malheur auf Malheur
Den schrillen Pfiffen der Lokomotiven, die nur das Eintreffen ungeladener Gäste avisiert hätten, war das stille Ufer mit knapper Not entronnen, als am Ende der Prinzregentenzeit das Ministerium die Pläne für den Bau einer Ostuferstrecke schubladisierte. Gegen die größere Gefahr des überhandnehmenden Automobilismus half dagegen kein Ministerium. Die sonst so besonnenen Anlieger griffen zur Selbsthilfe. In einer stürmischen Versammlung gründeten sie den Bund „Rettet Bayerns schönsten Spazierweg!“
Auf die eher verkehrsstillen Kriegs- und Nachkriegsjahre war das unwiderstehliche Wirtschaftswunder gefolgt, eine wahre Dampfwalze des Fortschritts. Motorsportler wirbelten Staubwolken in die verwilderten, die Natur noch respektierenden Gärten. Den Anliegern fiel in ihrer Not nichts anderes ein, als die Teerung der für den Durchgangsverkehr gesperrten Straße zu beantragen. Nun folgte Malheur auf Malheur.
Die lokale Polizeistation fiel dem bürokratischen Rotstift zum Opfer. Als die Ordnungshüter abgezogen waren, wurden die Verkehrsschilder, die Gesetzestafeln der automobilen Gesellschaft, kaum mehr beachtet. Ortsfremde drückten ungeniert aufs Gas und wahrten in der freien Fahrt für freie Bürger ihr unveräußerliches Menschenrecht. Das Zurückweichen der Staatsmacht schuf, wie oft in solchen Fällen, ein Vakuum, das clevere Investoren nur zu gerne ausfüllten. Was für Autofahrer recht war, mußte für Bauherren billig sein.
Am Mauereck schnupperte eine stattliche Dogge
Anwaltskanzleien traten den langen Marsch durch die Verwaltungsgerichtsbarkeit an, Behördenvertreter wurden so lange genervt, bis das Bier ihnen nicht mehr schmeckte, der Denkmalschutz ausgehebelt. An der Straße brodelte es. Sie war nicht nur umstritten, sondern umkämpft, mit juristischen, aber auch mit anderen Waffen.
An besagtem kühlem Junimorgen war Karbunkel länger als sonst unterwegs. Er hatte sich gerade den Freizeitanlagen genähert, als ihm auffiel, daß vor einer der letzten Prominentenvillen ein halb verborgenes, von Weinlaub umranktes Tor offenstand und den Blick auf etwas Kies, ein paar Stufen und eine barockisierende Bodenleuchte freigab. Den Rest des Villengrundstücks verdeckte eine mannshohe Thujenhecke.
Karbunkel kam näher. Am Mauereck schnupperte eine stattliche Dogge, auf deren Halsband ein Wappen mit drei Federbüschen und den ineinander verschlungenen Buchstaben S und W prangte. Der heraldische Mißgriff kam Karbunkel irgendwie bekannt vor, doch fiel ihm nicht ein, wo er ihm schon einmal begegnet war.
„Wie kommst du hierher?“
„Maximilian, komm her“, schallte es aus dem Off. Kurz darauf betrat eine hagere Gestalt in einer Kniebundhose und einem Walkjanker, sowie einem Hut, der durch häufiges Lüften mit fettigen Fingern eine seltsame Patina erhalten hatte, die kleine Bühne. Die Gestalt nestelte am Halsband der Dogge und blickte dann auf:„Ja, Herrgottsakrament, bist du der Trüfferl, ja gibt’s denn das?“ „Das gibt’s, Wiggerl, du siehst’s ja.“
Wiggerl schüttelte den Kopf, murmelte „Schwere Wetter …“ und zog aus der Hosentasche einen Obstler. „… Schwere Reiter“ erwiderte Karbunkel und nahm einen gebührenden Schluck.
„Ja, sag mal, wie kommst du hierher, nach mehr als einer Ewigkeit?
„Ist er in der Nähe?“
„Das Alter macht es. Ich habe mich zur Ruhe gesetzt, wohne wieder an der Straße, interessiere mich für den Sonnenuntergang und fahre des Kreislaufs wegen jeden Tag etwas Rad.“
„Da schau her, vom hohen Roß auf das klapprige Rad!“
„Und du, Wiggerl?“
„Ich bewache Haus und Hund. Wenn jemand herumlungert, hör ich mich im Dorf um. Der Chef nennt mich sein Frühwarnsystem.“
„Und der Chef hat die Initialen S und W?“
„Richtig, Mr. Steve Wilder.“
„Ist er in der Nähe, der Mr. Chef?“
Die Giganten treffen sich
„Nein, um diese Zeit ist er meist in Capri. Ausspannen sagt er. Doch vor einigen Tagen war er ganz aus dem Häuschen. Die Giganten der multinationalen Freizeitbranche träfen sich gerade jetzt und ausgerechnet in Capri. Sie hätten Milliarden im Rücken und die Absicht, an unserem See zu investieren. Da dürfe er sich nicht blicken lassen. Hat jedoch den Gustl hingeschickt, ob er etwas herausbekommt.“
„Gustl?“
„Na, du erinnerst dich doch an den Bachmeier Gustl mit den Bizepsen. Er hat jetzt so viele Fitneß-Studios eingesackelt, daß er mit dem Zählen gar nicht mehr nachkommt.“
„Schwere Wetter, Schwere Reiter, der Gustl ist nun schon der dritte aus unserem alten Bund.“
Karbunkel wollte sich gerade nach den übrigen löblichen Reitern erkundigen, als ihm einfiel, wo er das seltsame Wappen, den heraldischen Mißgriff schon gesehen hatte. Er wurde bleich, riß ein Blatt aus seinem Notizbuch, schrieb eine Telephonnummer hin und verabschiedete sich.
„Ruf bald an, dann reden wir weiter. Ich muß in die Kreisstadt. Ein Termin.“ Leicht schwankend, infolge der beunruhigenden Entdeckung oder des genossenen Obstlers, setzte er sich wieder in den Sattel und radelte davon.
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Caspar Freiherr von Schrenck-Notzing
Der Sproß eines Patriziergeschlechts in München, ebendort 1927 geboren, war einer der prägendsten konservativen Intellektuellen der deutschen Nachkriegszeit. In seinem 1965 erschienenen Buch „Charakterwäsche“, das rasch zu einem Standardwerk avancierte, widmete er sich kritisch der amerikanischen Umerziehung und der Vergangenheitsbewältigung, die Deutschland daran hinderte, wieder zu einer geistig souveränen Nation zu werden.
1970 gründete er mit Unterstützung durch den Publizisten Armin Mohler die zweimonatlich erscheinende Zeitschrift Criticón als Gegenstimme zur 68er-Kulturrevolution. Sie verstand sich als „Kristallisationspunkt einer heterogenen rechten Intelligenz“ (Alexander Eiber). Zu ihren namhaften Autoren gehörten unter anderem Hans-Joachim Arndt, Hellmut Diwald, Gerd-Klaus Kaltenbrunner, Gerhard Löwenthal, Günter Rohrmoser und Karlheinz Weißmann. Im Jahr 2000 gründete Schrenck-Notzing die Förderstiftung Konservative Bildung und Forschung (FKBF), die er 2007 in die Hände von JF-Chefredakteur Dieter Stein legte. Die Stiftung ist bis heute Träger der Bibliothek des Konservatismus (BdK). 2011 veröffentlichte die BdK die wichtigsten Texte Schrenck-Notzings im Werk „Konservative Publizistik“. Schrenck-Notzing starb am 25. Januar 2009 im Alter von 81 Jahren.
Der Auszug hier aus seiner Kriminalnovelle erfolgt mit freundlicher Genehmigung des Karolinger-Verlages.