Nach viereinhalb Jahren Bauzeit ist der Turm der Potsdamer Garnisonkirche dieser Tage im Rohbau fertiggestellt worden. Das Bauwerk, das jetzt bereits fast sechzig Meter in die Höhe ragt und nach der Fertigstellung des barocken Turmhelms mit fast 90 Metern die einstige preußische Residenzstadt überragen wird, steht beispielhaft für eine Welle von Rekonstruktionen historischer Gebäude in Deutschland, die nach der Wiedervereinigung vor mehr als dreißig Jahren richtig Fahrt aufgenommen hat.
Vor allem der Wiederaufbau der 1945 zerstörten Dresdner Frauenkirche, der nach dem Ende des SED-Regimes schnell angestoßen wurde und weltweit für Begeisterung sorgte, hat rückblickend einen großen Anteil daran, daß auch andernorts in Deutschland der Wunsch aufkam, die allgegenwärtigen Wunden, die der Bombenkrieg und die Tabula-rasa-Mentalität der Nachkriegszeit mitsamt der überall mit „Hortenkacheln“ in den Einkaufszonen entstandenen Betonklötze den deutschen Städten vielerorts geschlagen hatten, endlich zu heilen. Neben der Frauenkirche stehen Projekte wie die wiederaufgebauten Schlösser in Berlin, Potsdam, Braunschweig und Hannover-Herrenhausen sowie die Teilrekonstruktion der Altstadt in Frankfurt am Main stellvertretend für die Rekonstruktions-bewegung, die in den vergangenen Jahrzehnten vielerorts dafür gesorgt hat, daß den Deutschen ein Teil ihrer steingewordenen Identität zurückgegeben wurde und wieder mehr Schönheit in die Städte eingezogen ist.
In einem mit fast 400 Fotos üppig bebilderten Band haben die beiden Autoren Claus Wolfschlag und Daniel Hoffmann nun unter dem Titel „‘Und altes Leben blüht aus den Ruinen.’ Rekonstruktion in Architektur und Kunst seit 1990“ eine eindrucksvolle Bilanz dieser „dritten Welle“ der Rekonstruktionen in Deutschland, nach einer ersten Phase in der unmittelbaren Nachkriegszeit und einer zweiten Welle in den siebziger und achtziger Jahren, vorgelegt. Das Buch führt auf eindrucksvolle Weise vor Augen, welche architektonischen Schätze in den vergangenen dreißig Jahren wiedererstanden sind.
Kleine Rekonstruktionen stehen im Zentrum
Dabei konzentrieren sich die Autoren nicht nur auf die deutschlandweit bekannten „Leuchtturmprojekte“ in Dresden, Berlin oder Frankfurt am Main, sondern dokumentieren detailliert auch die vielen kleineren Rekonstruktionen und Stadtreparaturen, die, angeregt von den öffentlichkeitswirksamen Großprojekten, fast überall in Deutschland meist von geschichtsbewußten und heimatverbundenen Bürgern angestoßen wurden – häufig gegen erbitterte Widerstände von Politik, Medien und Architekten. Gerade Wolfschlag, der sich für den Wiederaufbau der Frankfurter Altstadt im Bereich des im Brutalismus der sechziger Jahre entstandenen Technischen Rathauses engagiert hatte, kann hier auf eigene einschlägige Erfahrungen zurückblicken.
Bei seiner Bestandsaufnahme der „dritten Welle“ orientiert sich das Buch zum einen an der ursprünglichen Nutzung der wiedererrichteten Gebäude („Schlösser und Herrensitze“, „Türme, Mühlen und sonstige Gebäude“ als auch am Charakter und den Umständen der Rekonstruktion („Später rekonstruierender Wiederaufbau“, „Kritische Rekonstruktion“). Hinzu kommen grundsätzliche Überlegungen zum Für und Wider architektonischer Rekonstruktionen und zu möglichen zukünftigen Wiederaufbau-Projekten.
Bombenkrieg oder Spitzhacke sorgten Zerstörung
So eindrucksvoll die von Wolfschlag und Hoffmann akribisch erstellte Bilanz der aktuellen Rekonstruktionswelle auch ausfällt, müssen die beiden auch etwas Wasser in den Wein gießen: Denn sie sehen deutliche Anzeichen dafür, daß die von ihnen dokumentierte Phase der Rekonstruktionen abflacht und zu ihrem Ende kommt: „30 Jahre einer architektonisch erfolgreichen Graswurzelbewegung von unten gehen zu Ende“, lautet ihre Einschätzung. Verantwortlich dafür seien unter anderem die wirtschaftlichen Verwerfungen infolge der Corona-Pandemie. Zwar sei es wahrscheinlich, daß auch künftig kleine Projekte mit Hilfe privater Spender umgesetzt werden, aber die Zeit von Projekten in der Größenordnung der Dresdner Frauenkirche oder des Berliner Stadtschlosses sind nach Auffassung der Verfasser vorerst vorbei.
Doch sie geben die Hoffnung nicht auf, daß der Wiederaufbau verlorener Bauwerke in absehbarer Zeit einen neuen Schub erhält. „Die Zeit ist geduldig, die Freunde historischer Rekonstruktionen verfügen über Beharrlichkeit sowie langen Atem.“ Und, möchte man hinzufügen, noch immer gibt es mehr als genug bedeutende Gebäude in Deutschland, die dem Bombenkrieg oder der Spitzhacke zum Opfer gefallen sind und deren Fehlen sich im Stadtbild schmerzhaft bemerkbar macht. Denn wie es in dem Buch heißt: „Die Abrißwellen der Vergangenheit haben gezeigt, daß dem Verschwinden eines historischen Hauses meist nichts Schönes nachkommt.“
Baukunst im Dienste der Menschen verdient Rückkehr
Doch der Blick der beiden Autoren geht über die Rückgewinnung verschwundener Bauwerke hinaus. Sie sehen in der jetzt auslaufenden Rekonstruktionsbewegung nur einen Schritt auf dem Weg zu einer „harmonischen und auf breites ästhetisches Gefallen treffenden Städtereparatur“. Mit anderen Worten: Vielleicht führt die in breiteren Teilen der Bevölkerung zu beobachtende Rückbesinnung auf das reiche architektonische Erbe durch die zahlreichen Rekonstruktionen der vergangenen Jahrzehnte zu einer generellen Trendwende in der Architektur – weg von den derzeit dominierenden ästhetischen Zumutungen des Funktionalismus hin zu einer wieder vor allem der Schönheit verpflichteten Baukunst im Dienste der Menschen.
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Claus-M. Wolfschlag: „Und altes Leben blüht aus den Ruinen.“ Rekonstruktion in Architektur und Kunst seit 1990.“ Ares Verlag, Graz 2021, gebunden, 224 Seiten, Abbildungen, 29,90 Euro.
JF 19/22