Schon aus der Bibel wird berichtet, daß der Prophet im eigenen Land nicht gern gesehen war, in der eigenen (Lebens-)Zeit wohl auch nicht. Literaten und große Komponisten teilen ebenfalls nicht selten das Schicksal, daß man die Größe ihrer Werke nicht sofort erkannte.
Der Brite Paul Coleman hatte bereits 2015 die englische Version seines nun in deutscher Sprache in einer aktualisierten und erweiterten Fassung erschienenen Buches „Zensiert. Wie europäische ‘Haßrede-Gesetze’ die Meinungsfreiheit in Europa bedrohen“ (Fontis-Verlag, Basel 2020) veröffentlicht. Also zu einer Zeit, als die breite Mehrheit in Deutschland noch kaum zur Kenntnis nahm, daß die Meinungsfreiheit durch staatliche Gesetzgebungen und Zensur-Ambitionen gefährdet sein könnte.
Inzwischen ist in Deutschland das Netzwerkdurchsetzungsgesetz gegen vermeintliche „Haßrede“ in Kraft, die Auswirkungen bekommt der Bürger bereits zu spüren. Heute, im Jahr 2020, könnte man dieses Buch rückwirkend fast prophetisch nennen, und es bricht ein in eine überhitzte Gesellschaft, in der immer mehr Menschen die Erfahrung teilen, daß der Vorwurf der „Haßrede“ schnell zur Hand ist, um andere aus dem Diskurs zu werfen, statt sie sachlich zu widerlegen.
Wo keine klare Definition, ist ideologisch alles drin
Sie werden im Internet moralisch zurechtgewiesen, gemeldet oder gleich gesperrt bei Facebook, Twitter und Co. Sie werden angeklagt und verurteilt, wenn sie ihre Überzeugungen halten. Ein linker Mob wütet mit fast religiösem Eifer durch Universitäten und Redaktionen, hütet neue „Wahrheiten“ und schlägt das Fallbeil über abtrünnigen Meinungen und jenen, die sich mit den „Falschen“ einlassen.
Wie die Doppelmoral einer politisch linken Kultur hier wenig tolerant unterwegs ist, greift Ralf Schuler, Leiter der Parlamentsredaktion der Bild-Zeitung, in seinem fundierten Vorwort auf. Was dürfen Bürger, aber auch Journalisten noch schreiben? Welche Meinung oder auch Kritik kann noch sorglos geäußert werden, ohne sofort als fundamentalistisch, „rechts“ oder gar homophob zu gelten?
Und nun weiß man gar nicht, ob man dem Autor Coleman gratulieren oder eher erschrocken sein soll, daß er mit all seinen Prognosen aus dem Jahr 2015 zur Entwicklung der Haßrede-Gesetze recht behalten hat. Mit der erbarmungslosen Nüchternheit eines Juristen seziert er die Entstehungsgeschichte der Haßrede-Gesetze, die vor allem eines gemeinsam haben: Keines von ihnen liefert eine verbindliche oder klare Definition von „Haßrede“, was das Fundament des Problems gleich freilegt: Wo keine klare Definition im Gesetz, ist ideologisch alles drin.
Ostblock drängte auf Einschränkung der Meinungsfreiheit
Was das in der Praxis bedeutet, veranschaulicht er mit einer großen Sammlung realer Fälle, die er als Menschenrechtsanwalt bis vor die höchsten Gerichte teilweise selbst verhandelt hat, aber auch anhand der Dokumentation anderer Fälle, in denen Menschen wegen ihrer Überzeugung mitten in Europa in Bedrängnis gerieten. Er zeigt auch, daß die Anklage oft reicht, um zu stigmatisieren oder in einer Art „Chilling Effekt“ andere abschreckt.
Coleman ist Anwalt von Beruf und Direktor der Nichtregierungsorganisation ADF International. Sie vertritt weltweit Christen, die wegen ihres Glaubens in Schwierigkeiten, vor Gericht oder gar im Gefängnis landen. Die Bandbreite reicht von Ministerinnen, die wegen Bibelzitaten angeklagt sind, über Hebammen, die man zur Beteiligung an Abtreibungen nötigen will, bis hin zu Priestern, die noch die katholische Definition von Ehe gegen die LGBT-Lobby verteidigen. Aber auch Straßenprediger, stille Beter und sogar Polizisten und Prominente kommen zunehmend in Bedrängnis wegen religiöser oder politischer Äußerungen.
Paul Coleman liefert eine Chronologie der Entstehungsgeschichte mancher „Haßrede“-Paragraphen in internationalen Verträgen und Vereinbarungen, und das löst Unbehagen aus: Es waren nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs die totalitären Regime, allen voran die Sowjetstaaten, die auf internationaler Ebene massiv für die Beschränkung freier Rede warben und die Einführung entsprechender Formulierungen in Menschenrechtsabkommen durchsetzten, während die demokratischen Länder des freien Westens massiv Einspruch erhoben und für die Freiheit jeder Rede kämpften. Vor allem auch für die Freiheit, Regierungen zu kritisieren, für die Freiheit, sich zu empören und für die Freiheit, anderer Meinung zu sein.
In der Rechtsprechung herrscht argumentative Willkür
Im Jahr 2020 stellen wir fest, daß sich der Wind um 180 Grad gewendet hat: Gerade in den freien, demokratischen Ländern und in der gesamten Europäischen Union blüht neuerdings der politische Wille, die Vielfalt von Meinungen einzuschränken mit dem Hauptargument, es provoziere Haß und löse Gewalt aus.
Den Beweis dieser These bleiben alle Staaten schuldig, wie Coleman nachweist, statt dessen entstehen wachsende Kollateralschäden und Rechtsunsicherheiten. In einer zusätzlichen und hochaktuellen Einleitung zur deutschen Ausgabe des Buches nimmt Coleman Stellung zu aktuellen Fällen in Deutschland, Europa und auch den USA. Ernüchternde Bilanz: Im Ergebnis herrscht in der Rechtsprechung argumentative Willkür.
Das Buch endet mit einer Sammlung der wichtigsten Haßrede-Gesetze, die in Europa schon gelten. Bald wird er eine zweite Auflage drucken müssen, um sie zu aktualisieren, denn die Zahl dieser Gesetze steigt in Europa von Jahr zu Jahr.
Paul Coleman: Zensiert. Wie europäische „Haßrede“-Gesetze die Meinungsfreiheit bedrohen. Fontis-Verlag, Basel 2020, Klappenbroschur, 284 Seiten, 18,- Euro.