BERLIN. Berlins Schulsenatorin Katharina Günther-Wünsch (CDU) hat am heutigen Freitag einen weiteren Bericht zum Wirken des Psychologen und Sexualforschers Helmut Kentler in der Berliner Kinder- und Jugendhilfe vorgestellt. Ein Team von Wissenschaftlern der Universität Hildesheim hat über Jahre die Tätigkeit des 2008 verstorbenen Kentler sowie seines Netzwerks untersucht.
Unter dessen maßgeblicher Beteiligung waren von Anfang der siebziger bis Anfang der 2000er Jahre Kinder und Jugendliche aus schwierigen Familienverhältnissen in Pflegestellen bei pädophil veranlagten Männern, die zum Teil bereits wegen sexueller Kontakte mit Minderjährigen vorbestraft waren, vermittelt worden.
Systematischer Mißbrauch durch Pädophile
Was die Forscher aus den untersuchten Akten und den im Bericht wiedergegebenen Gesprächen mit mehreren Betroffenen zutage förderten, mache betroffen und beschreibe eines der dunkelsten Kapitel in der Kinder- und Jugendpflege, sagte Günther-Wünsch bei der Vorstellung. Daß dies alles von Kentler und weiteren Verantwortlichen als „Experiment“ bezeichnet wurde, bezeichnete die Senatorin als „zutiefst menschenverachtend“.
Der 1928 geborene Kentler hatte, bevor er Professor in Hannover wurde, als Psychologe unter anderem an der Pädagogischen Hochschule Berlin gearbeitet. Er gehörte zur sogenannten Neuen Linken und war über Jahrzehnte nicht nur Vertreter sondern auch der Nestor einer „kritisch-emanzipatorischen Sexualpädagogik“.
Linke Ideen hatten Konjunktur
Seine Dissertation „Eltern lernen Sexualerziehung“ erschien im Rowohlt-Verlag und erreichte bis Mitte der neunziger Jahre eine Auflage von über 36.000. Sexualerziehung verstand Kentler als politische Bildung – mit dem Ziel, bestehende Normen und Herrschaftsverhältnisse zu verändern. Einen wesentlichen Bestandteil der Sexualpädagogik sah der Wissenschaftler, der selbst homosexuell war, zudem darin, Kindern und Jugendlichen „das Akzeptieren von Begierde und Lust zu ermöglichen“.
Daran daß er sich darüber hinaus für eine Enttabuisierung sowie Legalisierung von vermeintlich einvernehmlich und gewaltfreien Sexualkontakten zwischen Kindern oder Jugendlichen und Erwachsenen einsetzte, nahmen die meist ebenfalls linken Vertreter der Zunft lange Zeit keinen Anstoß.
Kentler wurde selbst zum Täter
Wie die Hildesheimer Wissenschaftler betonen, hatte es Kentler nicht bei theoretischen Erwägungen belassen oder Beihilfe für andere Pädophile geleistet, sondern war selbst zum Täter an Pflegekindern geworden. Dies trifft ebenso auf die beiden Pädagogen Gerold Becker und Herbert Colla-Müller zu, die in dem Bericht eine große Rolle spielen. So habe deren Netzwerk nicht nur in Berlin, sondern bundesweit gewirkt. Ihr Einfluß erstreckte sich auf Einrichtungen in Tübingen, Göttingen, Lüneburg und Heppenheim (Odenwaldschule).
Unterstützt oder gedeckt wurde das Treiben der Pädokriminellen von Mitarbeitern des Landesjugendamts im damaligen West-Berlin sowie von anderen Wissenschaftlern wie den Pädagogen Hartmut von Hentig und Martin Bonhoeffer. Die Beteiligten hatten sich insbesondere als Reformer bei der Heimunterbringung von Kindern hervorgetan. Wie in der nun vorgelegten Studie beschrieben, diente diese Heimreform den Tätern dazu, sexualisierte Gewalt an Minderjährigen zu verdecken. Sie wurde unter anderem durch Begriffe wie „pädagogisches Eros“ verklärt oder als „Einzelfall“ marginalisiert. Zudem hätten die Pädagogen mit der Macht ihres Netzwerks und unter Verweis auf ihre vermeintlichen wissenschaftlichen Erkenntnisse versucht, vereinzelte kritische Stimmen zum Verstummen zu bringen.
Hohe Dunkelziffer befürchtet
Wie viele Kinder und Jugendliche Ofer des von Wissenschaftlern und Jugendamtsmitarbeitern ermöglichten Mißbrauch wurden, ist derzeit noch nicht bekannt. Die Hildesheimer Forscher sowie der Berliner Senat haben Betroffene aufgefordert, sich zu melden. Zu Lebzeiten Kentlers wurden seine Taten und Verstrickungen nicht aufgearbeitet. Als der Professor für Sozialpädagogik 2008 in Hannover starb, galt er nach wie vor als renommierter Wissenschaftler.
Die Autoren der Studie betonen, daß auch die Fachwissenschaft ihre Verstrickungen aufarbeiten und Verantwortung für diese Mißstände übernehmen müßten. Dies gelte ebenso für die entsprechenden Verbände wie die Gesellschaft für Sexualpädagogik oder die Deutsche Gesellschaft für Sexualforschung. (vo)