Es muß irgendwann Mitte der achtziger Jahre gewesen sein. Die drei Schuljungen hätten sich eigentlich auf dem kürzesten Weg nach Hause an den Mittagstisch begeben sollen. Doch stattdessen drückten sie sich ihre Nasen an der Scheibe eines Autohauses platt. Dahinter, auf dem blankpolierten Boden des Verkaufsraums, der noch lange nicht Showroom hieß, dort, wo normalerweise Golfs oder Polos, Jettas oder Passats oder höchstens mal ein Audi 100 zu besichtigen – und zu erwerben– waren, dort stand er, leibhaftig: ein Traum in weiß und gelb, mit schwarzen und roten Streifen, den Werbeaufklebern für die Zigarettenmarke HB, mit ausladenden Kotflügeln und den charakteristischen Zusatzscheinwerfern vor dem Kühler – der Quattro, das legendäre Coupé aus Ingolstadt.
Während der Atem aus ihren offenen Mündern die Schaufensterscheibe und damit den Blick auf das Innere trübte, wurde den drei Jungs bewußt, daß da genau so ein Bolide stand wie jener, mit dem ihr Idol unterwegs war. Der beste Autofahrer jener Jahre, ein Deutscher zumal, der die skandinavischen Rallye-Nationen entthront hatte – Walter Röhrl. In dieser Zeit, da ein Michael Schumacher noch als ein Unbekannter in den Kart-Kinderschuhen steckte, war der Regensburger Röhrl der Inbegriff des deutschen Motorsports.
Walter Röhrl hatte zu dieser Zeit eigentlich schon sportlich alles erreicht: vom Anfang als Rallye-Europameister 1974, 14 Siegen bei WM-Läufen und schließlich Rallye-Weltmeister 1980 und 1982. Vor allem aber, was für ihn selbst am meisten zählte, siegte er viermal bei der Rallye Monte Carlo (1980, 1982, 1983 und 1984). „Ah, Sie schon wieder, Herr Röhrl“, soll ihn Fürst Rainier von Monaco bei der Siegerehrung einmal begrüßt haben.
Fahren im Auftrag der Kirche
Zum Motorsport war der hochgewachsene Oberpfälzer eher durch Zufall gekommen. Ein Bekannter bemerkte das Talent des begeisterten jungen Skifahrers am Steuer und besorgte ihm Ende der sechziger Jahre ein Auto und die notwendigen Mittel. Nach fünf Rennen als Privatfahrer mit erstaunlichen Zeiten erhielt Röhrl bei Ford seinen ersten Vertrag. Doch davor mußte er ein emotionales Hindernis überwinden: Seine Mutter war zunächst strikt dagegen, daß ihr Sohn sich dem schnellen Autofahren mit Leib und Seele verschrieb, denn sein elf Jahre älterer Bruder Michael war wenige Jahre zuvor tödlich mit seinem Sportwagen verunglückt.
Sein Talent am Volant bewies der junge Mann schon als Fahranfänger. Beim bischöflichen Ordinariat in Regensburg hatte er einen kaufmännische Ausbildung absolviert. Daß er bekennender katholischer Christ ist, daraus machte Walter Röhrl auch später nie einen Hehl. Als 18jähriger Außendienstmitarbeiter mußte der jungen Verwaltungsangestellte dann seinen Vorgesetzten Heinrich Zenglein, dem die Immobilien mehrerer bayerischer Diözesen unterstanden, zu Terminen durch ganz Bayern fahren, denn der promovierte Jurist besaß keinen Führerschein.
Der Dienstwagen war ein Mercedes 200 Diesel, den man ordentlich treten und in Schwung halten mußte, wenn man zügig vorankommen wollte. Dabei passierte es häufiger, daß entgegenkommende Fahrzeuge dem rasanten Röhrl mit der Lichthupe ihren Unmut über dessen Fahrweise signalisierten. Der irritierte Beifahrer fragte, was das zu bedeuten habe. Und Röhrl behauptete keck, das seien alles seine Bekannten, die ihn kurz per Lichtzeichen grüßten. Woraufhin der Verwaltungsjurist erstaunt im Büro berichtete, „der Röhrl kennt jeden zweiten in Bayern“.
Er konnte das Auto unter sich spüren
Als wolle er beweisen, daß es nicht in erster Linie auf das Auto, sondern auf den Fahrer ankommt, erzielte Röhrl seine Erfolge auf verschiedenen Marken, zum Teil auch mit unterlegenen Fahrzeugen. Er siegte im Opel Ascona, im Fiat 131 Abarth – beides eher „Familienkutschen“, genauso wie im Lancia Rally, dem man nachsagte, nur aus dem Motor mit zwei Sitzen davor zu bestehen. In dieser Erfolgsära stets an seiner Seite war der kongeniale Co-Pilot Christian Geistdörfer, der – so Röhrl anerkennend – niemals einen Fehler gemacht habe, der stets zuverlässig das „Gebetbuch“ vorlas und richtig stempelte.
Wer heute die Bilder jener goldenen Ära des Rallyesports mit ihren hochgezüchteten Autos der Gruppe B sieht, kann kaum glauben, was damals möglich war. Zuschauer, die in Massen direkt an, ja sogar auf der Rennstrecke standen, um dann erst kurz bevor die Fahrer heranjagten, zurückzuweichen.
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Nach anfänglichem Zögern startete das Duo Röhrl/ Geistdörfer 1984 dann erstmals für die zuvor noch verbissen bekämpften Ingolstädter. Der Audi mit seinem Allradantrieb verlangte eine gänzlich andere Fahrweise als die heckgetriebenen Vorgänger anderer Marken.
Röhrls Erfolgsgeheimnis: Zum einen konnte er – wie Weggefährten voller Bewunderung meinten – das Auto unter sich buchstäblich spüren. Eine Fähigkeit, die er als ehemaliger Jugend-Skirennläufer und ausgebildeter Skilehrer von seinen Fertigkeiten auf schneebedeckten Pisten ableitete. Er sei Autogefahren wie er Ski gelaufen sei, meinte der Rallye-Profi einmal. Zudem war er ein akribischer Arbeiter in der Vorbereitung. So konnte er eine Rallye in Portugal trotz dichtem Nebel als Schnellster fahren, weil er zuvor die Strecke im Hotelzimmer anhand von Notizen auswendig gelernt hatte.
Disziplin und Ehrgeiz statt Dolce Vita
Legendär auch, wie Röhrl in Rekordzeit 1987 das berühmte Rennen zum Gipfel des Pikes Peak in den Rocky Mountains gewann. Fast ausschließlich driftend trieb er den 600 PS starken Audi Quattro Sport, die verkürzte Version des Coupés, mit seinen immensen Flügeln und Diffusoren und dem charakteristischen pfeifend-fauchenden Turbo den über 4.000 Meter hohen Berg hoch. Die Amerikaner hatten zuvor schon das Preisgeld ausgesetzt, damit das nicht immer an die Europäer ging, die einfach die besseren Autos bauten und im Duell zwischen Audi und Peugeot das Rennen unter sich ausmachten.
Walter Röhrl war das Gegenstück zu den meist recht feierfreudigen Skandinaviern, die zwar allesamt hervorragende Autofahrer, aber eben nicht immer die fittesten Sportler waren. Anders der Asket aus Regensburg, der lieber auf dem Rennrad trainierte als um die Häuser zu ziehen. Preisverleihungen beim Verband in Paris mied er stets. Eine WM-Titel-Feier hat er nie mitgemacht. Als sein Co-Pilot ihm einmal zwischen zwei WM-Läufen vorschlug, einen Abstecher in die Südsee zu machen, soll Röhrl bloß geantwortet haben: „Was soll ich auf Hawaii, ich möcht’ heim nach Regensburg!“
Sein Privatleben blieb skandalfrei. Der Glamour und das Dolce Vita im Motorsport jener Jahre waren nicht seine Sache. Über 50 Jahre ist er mit seiner Ehefrau zusammen, lebt nach wie vor in der bayerischen Heimat oder in seinem Haus in Österreich. „Ich bin und bleibe immer der Bauernbub“, sagte er zur Begründung.
Keine Zeit an der E-Ladesäule verplempern
Als Audi die Rallyes aufgab, fuhr Röhrl noch eine Weile für die Ingolstädter Rundstrecken wie die DTM, TransAm, die 24 Stunden von LeMans oder auf dem Nürburgring.
1993 zog er sich aus dem aktiven Motorsport zurück, arbeitete fortan als Testfahrer und Repräsentant für Porsche. Noch im Alter erteilt er Fahrsicherheitstrainings, bei denen er mit Möchtegern-Rennfahrern hart ins Gericht geht. Und längst ist der Ex-Weltmeister ein „Influencer“ in sozialen Netzwerken, dem auf Facebook und Instagram über 200.000 Fans folgen.
Den drei Schuljungen blieb damals nur der Blick auf den Allradler ihres Idols. Immerhin hatte jeder von ihnen den Wagen ja in seinem Kinderzimmer, wenn auch nur im Maßstab 1:87, aber ansonsten mit allen Details, um sich aufs Siegertreppchen von Monte Carlo zu träumen. Das Schwärmen schwand mit den Jahren, das kleine Quattro-Modell blieb, wenigstens bei einem von ihnen über all die Zeiten erhalten. Genauso wie die Hochachtung vor einem großartigen und doch bodenständigen Sportler.
Walter Röhrl, der kürzlich einmal sagte, seine verbleibende Lebenszeit sei zu kurz, als daß er sie an einer E-Ladesäule verplempern wolle, wird an diesem Montag 75 Jahre alt.