Die grüne Kulturstaatsministerin Claudia Roth hat in ihrem Interview mit der FAZ (Ausgabe vom 7. Februar) keinen Zweifel daran gelassen, daß sie ihre Berufung in das Amt als eine solche empfindet: „Daß die Grünen sich dann für mich entschieden haben, verstehe ich als Signal: Da gibt jemand der Kulturpolitik ein Gesicht und eine Stimme.“ Die Stimme der Claudia Roth: abwechselnd im Leidens-, Anklage- und Weltrettungsmodus, schrill auf jeden Fall. Ihr Gesicht ziert neuerdings eine große schwarzgerahmte Brille, ein Hipster- oder Existentialisten-Zitat.
Kenner des DDR-Kinderfernsehens kann sie damit nicht täuschen: Trotz kontrastierender Haarfarbe ähnelt sie der „Frau Puppendoktor Pille mit der großen klugen Brille“, welche den Puppenmuttis und -vatis in einer fiktiven Sprechstunde und in kindgerechter Sprache nützliche Ratschläge mit auf den Lebensweg gab: zum Beispiel, daß 35 hastig hintereinander verzehrte Pflaumen für Bauchschmerzen sorgen und Puppen- wie Menschenkinder sich von schnupfenden, niesenden, hustenden Erwachsenen fernhalten sollen von wegen der Ansteckungsgefahr.
Bei Frau Roth ist es umgekehrt: Sie bemüht sich um gehobene Erwachsenensprache, doch der Sinngehalt verbleibt im kindlich-eindimensionalen Bereich. Dabei ist, was sie sagt, absolut ernst gemeint und zu nehmen. Immerhin ist sie die Repräsentantin einer Partei, deren Anteil am politisch-medialen Diskurs den Wähleranteil um ein Mehrfaches übersteigt. Und vor allem hat sie ein Regierungsamt und damit administrative Macht inne.
Typisch bundesdeutsche Naherinnerung
„Kultur ist die Stimme der Demokratie“, lautet ihr Credo. Kulturpolitik will sie als „Gesellschaftspolitik und Demokratiepolitik“ betreiben. Nur hat es Kultur bereits gegeben, als von Demokratie und der freiheitlich-demokratischen Grundordnung noch keine Rede war. Auch sind Kultur und Kunst oft eine aristokratische Angelegenheit. Trotzdem – oder gerade deshalb – ist Gottfried Benns Gedicht „Einsamer nie“ mehr wert als die Textproduktion sämtlicher Grünen-Parteitage. Zudem weckt das Wort „Demokratiepolitik“ düstere Assoziationen in dem Sinne: „Was Demokratie ist, bestimmen wir, die an den politischen Machthebeln sitzen, und die Kultur ist einer der Hebel, die wir bedienen.“
Roth hat hinzugefügt: „Kulturpolitik verstehe ich als Aufbruch in die Wirklichkeit“, bei dem es „nicht nur um finanzielle Förderung, sondern um grundlegende Fragen (geht): Wie sieht Erinnerung aus in Zeiten, in denen es keine Zeitzeugen mehr gibt? Wie erweitern wir Erinnerungskultur um den ganzen Bereich der Dekolonialisierung?“
Ihr zweiter Schwerpunkt „betrifft die ‘Gesellschaft der Vielen’. Wie drückt sich diese Vielfalt eigentlich in unserer Kultur aus? Inwiefern ist die Diversität unseres Landes beim Personal der Kultureinrichtungen und in den künstlerischen Ausdrucksformen sichtbar? Mein dritter Schwerpunkt ist der Kampf gegen die Klimakrise. Wie können die Kultureinrichtungen da ihren Beitrag leisten?“
Zum ersten Punkt: Erinnerung gilt dem Vergangenen, und das Verschwinden von Zeitzeugen ist der Lauf der Welt. Es existieren heute ja auch keine Zeitzeugen aus der Luther-, Bach-, Goethe- oder der Kaiserzeit – letztere eine Periode, in der Deutschland die meisten Nobelpreisträger hervorgebracht hat. Roths „Erinnerung“ bezieht sich exklusiv auf die NS-Zeit, womit sie unbewußt zu erkennen gibt, daß sie über kein historisches Gedächtnis, sondern nur über die typisch bundesdeutsche Naherinnerung verfügt, wobei das „Dritte Reich“ als Wasserscheide zwischen Gut und Böse fungiert.
Humboldt-Forum als weltoffener Ort
So erklärt sich auch, daß ihr im Interview kein reflektiertes Wort über das Verhältnis zum kulturellen Erbe einfällt. Die ganze Hinterlassenschaft der vordemokratischen, finsteren Vergangenheit materialisiert sich für sie in den Benin-Bronzen, die nun schnellstens nach Afrika zurückgegeben werden müßten. Oder in der Inschrift auf der Kuppel des Berliner Stadtschlosses, des jetzigen Humboldt-Forums, die verkündet, daß der Mensch sein Heil nur finde „in dem Namen Jesu, zur Ehre Gottes des Vaters“. Roth: „Da wird ein Dominanzanspruch formuliert, der einfach nur abschreckend wirkt.“ Das Humboldt-Forum müsse stattdessen „zu einem weltoffenen Ort“ gemacht werden, „an dem sich niemand ausgegrenzt fühlt“.
Das Christentum ist heute am lebendigsten in Afrika, in Lateinamerika, jedenfalls in außereuropäischen Weltgegenden. Besucher, die von dorther kommen, werden sich durch die christliche Botschaft gewiß nicht „ausgegrenzt“ fühlen. Und interessierte Gäste aus Ostasien, Indien oder der islamischen Welt wissen natürlich und respektieren, daß Deutschland und Europa auf christlich-abendländischer Grundlage beruhen.
Auch lassen die Vielzahl überseeischer Exponate sich nicht auf koloniales Raubgut reduzieren: Ihre Sammlung, Archivierung, Pflege, Erforschung und Präsentation zeugen vom Interesse an anderen Kulturen. Die expressionistische Malerei und Plastik hat sich von der afrikanischen figürlichen Kunst direkt inspirieren lassen. Davon weiß die Staatsministerin offenbar nichts, und sie wird auch nicht danach gefragt. Was sie für „Weltoffenheit“ hält, ist Unbildung und grün-provinzieller Geistesmuff.
„Woke“ Ideologie realisieren
Die zwei anderen Punkte – „Diversität“ und „Klimakrise“ – gehören in die Bereiche des grünen Utopismus und der säkularen Religiosität. Auch deshalb markieren Roths kulturpolitische Vorstellungen keinen „Aufbruch in die Wirklichkeit“, sondern sind darauf angelegt, mit den Mitteln von Kultur und Kunst mitzuhelfen, eine neue, ideologisierte, „woke“ Wirklichkeit zu realisieren.
Die 66jährige Politikerin, deren Unterkomplexität häufig mit Spontanität und Authentizität verwechselt wird, ist das törichte Gesicht einer knallharten Politik, die den Umbau zu einer „Green-Culture“-Gesellschaft anstrebt. Im Internet-Auftritt der grünen Bundestagsfraktion heißt es: „Viele Künstler*innen und Kultureinrichtungen wollen ihren Beitrag zur Einhaltung des 1,5-Grad-Ziels leisten.“
Was als Feststellung daherkommt, ist eine Drohung an jene Künstler, die das 1,5-Grad-Ziel für einen Irrwitz halten. Denn schon die Corona-Maßnahmen sorgen im Kulturbetrieb für große Not. Künstlern aller Genres wurde durch die Absage von Konzerten, Ausstellungen, Lesungen, Kinovorstellungen, Filmdrehs ihr Broterwerb genommen. Die Kulturszene ist in einem existentiellen Sinne abhängig und erpreßbar geworden.
Für die Grünen bietet die Krise die wunderbare Chance, einen funktionalen bzw. totalitären Kulturbegriff und die Gleichschaltung des kulturellen Lebens durchzusetzen. Bereits im März 2021 stellten sie einen Antrag im Bundestag, der „den Aufbau einer zentralen Anlaufstelle für Beratung von Kultureinrichtungen und -akteur*innen zu Fragen der ökologischen Transformation“ verlangt.
Es geht um „den Aufbau eines Green-Consultants-Pool, durch Identifizierung, Vernetzung und Qualifizierung von Green Consultants sowie der Einrichtung einer Green-Consultants-Datenbank“. Weiterhin fordert der Antrag „die Entwicklung/Lizenzierung eines einheitlichen Monitoring- & ReportingInstruments zur Messung der Ressourcenverbrauche und -einsparungen bei Kultureinrichtungen und -projekten“ sowie „die Mitgestaltung des öffentlichen Diskurses zu Fragen der ökologischen Transformation im Kulturbereich und der Kulturpolitik (…).“
Der „Nonkonformismus“ von einst ist der Konformismus von heute
Was im technokratischen Kauderwelsch der Managersprache entworfen wird, ist ein umfassendes Gängelungs- und Überwachungskonzept, um den gesamten Kulturbetrieb – die Produktion, Distribution, Präsentation – unter ein grün-wokes Dogma zu stellen und zu seinem Propagandainstrument zu machen. Katrin Göring-Eckardts Idee, eine Hofpoetin im Parlament zu installieren, konnte noch als persönliche Spinnerei belächelt werden, doch der Wahnsinn ist methodisch und soll nach grünen Vorstellungen durch eine Art Bundeskulturkammer institutionalisiert werden.
Erhard Grundl, grüner Obmann im Ausschuß für Kultur und Medien und kulturpolitischer Sprecher seiner Fraktion, will die Kultur „ökologisch zukunftsfähig (…) machen“ und dazu „in der Trias ‘Kultureinrichtungen – Expert*innen – Politik’ (…) regelmäßig Bedarfsanalysen“ erstellen lassen. Das ist bemerkenswert: Politiker maßen sich an, am grünen Planungstisch eine zukunftsfähige Kultur zu entwerfen.
Die Blaupause dafür ist in der „Brüsseler Erklärung – für die Freiheit der Kunst“ enthalten, die Roth und Grundl im Juli 2018 initiierten. Sie ist gegen Versuche „rechtsnationale(r) Regierungen“ gerichtet, „die Kreativszene für ihre Zwecke einzuspannen“. Politik solle Kunst nicht beurteilen oder durch Vorgaben instrumentalisieren, sondern ihr „den Rücken freihalten“. Kritisiert wurde unter anderem, daß die „staatliche Ungarische Akademie der Künste (…) mit einer nie dagewesenen Machtfülle, exklusiven infrastrukturellen Kontrollwerkzeugen und einem gigantischen Budget ausgestattet“ wurde.
Die Erklärung beruft sich auf die „68er-Bewegung in Europa“, die „mit ihrem Bekenntnis zu Nonkonformismus, zur Freiheit des Denkens, gegen das Spießertum und für den politischen Diskurs frischen Wind unter Talare, auf Bühnen, in Ateliers und Orchester“ brachte. Nur ist der „Nonkonformismus“ von 1968 der geistig-kulturelle Konformismus von heute und längst vom internationalen Kultur- und Medienbetrieb in seine globalistische Softpower integriert worden. Als Teil dieser Macht nehmen die Grünen für sich als selbstverständliches Recht in Anspruch, was sie den „Rechten“ vorwerfen.
Vor allem die Filmproduktion im Blick
Wie alle modernen Propagandisten vor ihnen haben die Grünen primär die Filmproduktion im Blick. „Film und Kino sind wichtig für den gesellschaftlichen Diskurs. Wir werden die Förderung des Films so gestalten, daß sie Schritt hält mit dem technischen und gesellschaftlichen Wandel“. Was im Klartext heißt, daß man die Filmindustrie hundertprozentig auf Kurs bringen will. Dazu soll „im Zuge der Novellierung der Filmförderung das aktuelle System offen (evaluiert) und dabei innovative neue Instrumente hinsichtlich ihrer Stärkung der kulturellen Vielfalt (geprüft)“ werden.
Baden-Württembergs grüne Kulturstaatssekretärin Petra Olschowski hat klargestellt, daß es weniger um eingesparte Plastikbecher und die Absenkung des Stromverbrauchs, sondern um Inhalte geht: „Kunst und Kultur können aufgrund ihrer Innovationskraft und Kreativität eine Rolle bei der Entwicklung alternativer Zukunftsaussichten spielen und damit ein wichtiger Treiber von Transformationsprozessen sein.“
Künstlerische Freiheit bestünde dann darin, grüne Phantasmen in unterschiedlichen Variationen zu illustrieren. Wobei der Rahmen eng gezogen ist, denn die Filmemacher müßten auf jeden Fall „darauf achten, daß ökologische und soziale Kriterien bei geförderten Filmen eingehalten werden und die gesellschaftliche Diversität vor und hinter der Kamera abgebildet wird“.
Denn das wußte schon Walter Ulbricht, der 1965 auf dem berüchtigten Kultur(„Kahlschlag-“)plenum des Zentralkomitees der SED den Künstlern ins Stammbuch schrieb: „Demokratie bedeutet doch nicht, daß jeder nur Geld nimmt und macht, was er will.“ Sein Nachfolger im Wartestand, Erich Honecker, sekundierte: „Die aktive Rolle der Kunst und Literatur besteht gerade darin, die Überwindung der Widersprüche auf der Grundlage unserer sozialistischen Bedingungen im bewußten Handeln der Menschen durch die konstruktive Politik von Partei und Staat künstlerisch zu erfassen.“
Der Grünen-Politiker Grundl hebt eine nicht ganz unwichtige Kleinigkeit hervor: Die Maßnahmen zur „Transformation hin zu ökologischer Kulturproduktion kosten Geld“. Sie hätten einen günstigen Nebeneffekt für die eigene Klientel. Neben grüngesinnten Künstlern ließen sich viele Halbgebildete, unqualifizierte Schwadroneure, Bummelstudenten – also ein wichtiges grünes Wählersegment – mit gutdotierten Posten in der staatlichen Kulturplanung und Kulturobservation versorgen.
Die bösen Kinder der Bundesrepublik, sie meinen es ernst. Welcher falsche Puppenspieler hat sie bloß verführt?
JF 9/22