Von Bismarck ist ein böses, aber auch wahres Wort überliefert: „Je weniger die Leute davon wissen, wie Würste und Gesetze gemacht werden, desto besser schlafen sie.“ Heute, zwei Reiche und eine Republik später und im Zeitalter der Informationstechnologie, der Mediendemokratie und der Wissenschaftsgläubigkeit müßte man zu den Würsten und Gesetzen noch Studien und Statistiken hinzufügen. Besonders deutliche Beispiele liefern seit einiger Zeit einige Familienforscher und Demographen. Letztere würde der renommierte Bevölkerungswissenschaftler Herwig Birg vermutlich unter die „Gelegenheitsdemographen“ einordnen, erstere gehören eher in die Kategorie „Forschen am Feindbild Familie“, jedenfalls wird da manches durch den Fleischwolf der Statistik gedreht.
Jüngster Anlaß für dieses auf den ersten Blick grobe Wurst-Urteil ist die Dezember-Studie des eigentlich seriösen Max-Planck-Instituts für demographische Forschung in Rostock, nach der die niedrige Geburtenquote in Deutschland „kein Phänomen deutscher Lebensart, sondern eine Folge mangelnder Angebote zur Kinderbetreuung“ sei. Sie hält diesen Mangel, vulgo zu wenig Krippen, für einen „wesentlichen Faktor“ der anhaltend niedrigen Geburtenzahlen.
Auch der gegenteilige Schluß ist möglich
Zu diesem Ergebnis kommen die Forscher durch einen Vergleich mit der Fertilität in der deutschsprachigen Region Belgiens. Deren Bevölkerung sei in der deutschen Kultur verwurzelt, könne aber gleichzeitig auf das Kinderbetreuungsangebot Belgiens zurückgreifen, das ähnlich wie in Frankreich stärker ausgebaut sei als in Deutschland. Ihre Geburtenrate liege deutlich über der in Deutschland. Die etwa 75.000 deutschsprachigen Belgier der Grenzregion Eupen-Malmedy haben Deutsch als Amtssprache und in der Schule, konsumieren deutsche Medien und haben auch einen eigenen Radiosender. Sie „erleben den deutschen Diskurs über das Frauen- und Familienbild“, nutzen aber seit „fast einem Jahrhundert die belgischen Familienleistungen“, insbesondere das gut ausgebaute Netz an Kinderbetreuung.
Besonders gravierend sind die Fehler bei den Vergleichsgenerationen. Es geht um Frauen der Geburtsjahrgänge 1955 bis ’59, die ihre Kinder mehrheitlich zwischen dem 25. und dem 35. Lebensjahr bekommen haben, also lange vor dem sogenannten „Krippenkrieg“ in Deutschland. Der setzte 2006 ein und läuft, wenn auch auf anderer Ebene, immer noch.
Man könnte die Studie aus Rostock gut und gerne als Nachhutgefecht oder als Anschlag der Wissenschaftsguerilla bezeichnen. Denn seither ist das Netz auch in Deutschland ausgebaut und dennoch kommen nicht mehr Kinder zur Welt. Man müßte sich also eher fragen: Warum bekommen die Deutschen trotz des hohen Krippenangebots so wenig Kinder? Und man käme vielleicht sogar zu dem gegenteiligen Schluß der Rostocker Forscher, nämlich daß die tief verwurzelte deutsche Familienkultur bisher den totalen Absturz verhindert hat. Man hätte also, um das Ergebnis zu bestätigen, auch die späteren Jahrgänge und die Geburten nach dem Krippenkrieg vergleichen müssen. Das ist nicht geschehen, und der Verdacht liegt nahe, daß die Rostocker dieses Ergebnis schon kannten und lieber verschweigen wollten.
Denn nach Angaben des Mikrozensus 2012, der zuverlässigsten Datenerhebung des Statistischen Bundesamtes, ist die Kinderlosigkeit in den letzten Jahrzehnten (also nach den herangezogenen Jahrgängen der Rostock-Studie) noch weiter gestiegen, trotz des fossierten Krippenausbaus in Deutschland. Und man braucht auch keine neuen Datenvergleiche mit dem Ausland anzustellen. Es genügt der Blick auf Deutschland. Der Osten hatte trotz der noch aus DDR-Zeiten stammenden flächendeckenden Betreuungsstruktur nach der Wiedervereinigung sogar weniger Geburten als der Westen, und die Zahlen haben sich mittlerweile angeglichen.
Wissenschaftliche Nebelkerzen
Ärgerlich aber wird es, wenn man sieht, wie wurstig mit den verschiedenen Altersgruppen umgegangen wird. Die Rostocker loben vor allem die Vorschulen, also die Ecoles Maternelles nach dem Vorbild Frankreichs. Denn diese Vorschulen stehen für die Altersgruppen drei bis sechs Jahre bereit, entsprechen also altersmäßig aber keineswegs entwicklungsqualitativ unseren Kindergärten. Die Guerilleros brechen aber ständig Lanzen für die Krippen, indem sie unterscheidungslos von Kitas sprechen. Man fragt sich, ob sie den fundamentalen entwicklungspsychologischen Unterschied zwischen unter drei und über drei kennen oder ob sie ihn bewußt vernebeln.
Diese Kenntnis ist bei den deutschen Müttern offenbar trotz wissenschaftlicher Nebelkerzen noch instinktiv vorhanden. Die meisten Mütter in Deutschland wollen in den ersten drei Jahren ihr Kind vorwiegend selbst betreuen und suchen daher – überwiegend aus wirtschaftlichen, aber auch aus persönlichen Gründen – allenfalls eine Teilzeitbeschäftigung. Das sollten Mütter nach der Vorstellungswelt der Rostocker und ihrer Auftraggeber offenbar nicht tun. Sie sollen wohl, wie es dem gängigen Rollenverständnis im politisch-medialen Establishment entspricht, nach der Geburt vollzeitig und so früh wie möglich an den Arbeitsplatz zurück.
JF 52/13-01/14