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Weihnachten in Dallmin

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Weihnachten in Dallmin

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Vor Weihnachten konnte ich immer schlecht schlafen – als Kind, weil ich mich innerlich so heftig freute, jetzt, weil ich mich trotz Zurüstung doch frage, ob ich alle Erwartungen meiner Leute erfülle. Der Advent, früher die Zeit der hohen Erwartung und kontemplativen Besinnung, ist verfremdet durch „verkaufsoffene Sonntage“ und die schrillen Propagandismen des Marktes. Das streßt selbst jemanden, der eher an Schopenhauer orientiert ist als am Media-Markt: Ich bin doch nicht blöd.

Um 1970 lebte ich in einer Welt, die mir in manchem ferner zu sein scheint als das 19. Jahrhundert. Ich sehe mich mit meinem Vater den Baum holen. Wir sind auf zwei alten Drahteseln unterwegs. Abgesprochen mit Förster Teubner, sägen wir in der Schonung am Schwarzen Weg eine kleine Kiefer ab, die mein Vater – die Bügelsäge überm Rücken, eine Hand am Lenker, in der anderen den Baum – nach Hause radelt . Immer eine Kiefer, nie eine Fichte oder Tanne. Ob es daran liegt, daß wir in der brandenburgischen Prignitz, also im alten Preußen, unterwegs sind, weiß ich nicht. Fichtenwälder sind so düster, meinte meine Mutter, Kiefern aber immer so licht.

Wo wir im Herbst noch Maronen und Pfifferlinge sammelten, brabbelt mein Vater jetzt mürrisch vor sich hin, weil er weiß, seine Frau wird wieder nörgeln. Weil der Baum zu hoch aufgeschossen ist oder zu gedrungen, weil er zu buschig anmutet oder weil er ihr, im Gegenteil, zu kahl erscheint. Weil zu viele Nadeln an den Spitzen gelb sind! So was hast du mir noch nie angebracht, Hans! Solche Krücke! Immer mosert sie, wenn er ihr draußen auf dem Hof den Baum vorstellt. Aber dann putzt sie ihn an, und er wird zum Beifall aller zur besten Weihnachtskiefer, die wir je hatten.

Die Beziehung zur Natur

Ich wachse in keinem christlichen Haushalt auf. Meinem Vater, einem ruhigen Biologie- und Chemielehrer, ist die evangelische Religion irgendwo zwischen Krieg und Studium abhanden gekommen; und schon die Eltern meiner Mutter, Polen, die sich in Deutschland auf den Gütern und bei Bauern als Landarbeiter durchbrachten, hatten ihren Katholizismus nicht mehr gelebt.

Von der Religion redeten mir meine Eltern, wenn wir darauf kamen, als von Mythen, die in ihrem Anliegen und in dem, was sie gleichnishaft beschrieben, wohl schon wahr, richtig und gut wären, die man aber besser nicht so genau beim Wort nahm, zumal sie für etwas Altes stünden, was vorbei sei, müsse der Mensch seine schwierigen Angelegenheiten doch selbst regeln, ohne sich je auf Offenbarungen und jenseitige Hoffnungsziele verlassen zu können. So ungefähr. Einerseits ihr historischer Materialismus für den Hausgebrauch, andererseits ihre mein Leben später prägende warmherzige Beziehung zur Natur und zum Mitgeschöpf.

Aber auch ohne Christkind und Krippe wurde es heimelig. Jedenfalls wenn das große Saubermachen endlich vorbei war und der Staubsauger nicht mehr röhrte. – Als ich, ein Junge des sozialistischen Kindergartens der Landwirtschaftlichen Produktionsgenossenschaft des Dorfes, plötzlich neunmalklug verkündete, ich wisse genau, daß es gar keinen Weihnachtsmann gebe, klopfte es kurz darauf an einem schon düsteren Advent-Abend an die Scheibe des Wohnzimmers.

Plätzchen vom Weihnachtsmann?

Meine Mutter: Los, Heino, guck mal nach, wer denn da noch was will! – Ich blickte hinaus und sah – den Weihnachtsmann! Daß sich mein Vater, draußen ums Haus eilend, einfach die Larve übergezogen hatte, die mich da aus dem Dunkeln durch die Scheibe anblickte, bekam ich in diesem schockierenden Moment gar nicht mit. Und dieser Glaube hielt dann noch, leise zweifelnd, ein Jahr oder gar zwei. – War der späte Himmel im Westen ab und an glutrot, so sagte meine Mutter: Da siehst du es.

Dort bäckt der Weihnachtsmann all die Plätzchen. Er hat seinen Ofen ordentlich eingeheizt. – Ja, das war vorstellbar! Irgendwo im Westen, hinter der Löcknitz, hinter der alten Großbahnlinie Berlin-Hamburg, die jetzt verschiedenen Teile einer auseinandergebrochenen Welt verband, dort mochte der Weihnachtsmann wohl wohnen.

Als er dann schließlich wirklich nicht mehr kam und ich keine Verse mehr aufsagen mußte, hielten wir es so, daß mein Vater mit mir am späten Nachmittag einen ausgedehnten Spaziergang durch das schon stille Dorf und den etwas unheimlichen alten Schloßpark hinter dem Gutshaus machte. Wir gingen all die uns vertrauten Wege entlang, schon im Dunkeln, während nichts zu hören war, als ab und an das Bellen der Hunde auf den verschlossenen Gehöften. Zwischen den alten Buchen lauschten die glatten Teiche.

Vor allem Bücher

Ich fragte meinen Vater oft, wie er Weihnachten als Kind erlebt hatte, und er erzähle mir von den einfachen Gewohnheiten seines Glövziner Elternhauses. Und von den schlichten Geschenken: schafwollene Socken, Handschuhe, Nüsse, Äpfel. – Währenddessen richtete meine Mutter zu Hause für uns die Bescherung. Danach dann würden wir sie beschenken.

Ich wünschte mir und bekam Bücher: Abenteuerliteratur, Reiseberichte oder Populärwisssenschaftliches – über Natur und Geschichte, später pfundige Nachschlagewerke und Atlanten. Gern auch etwas zum Experimentieren. Die Reihe „Biologie, selbst erlebt“, „Physik, selbst erlebt“ usw., in der selbst zu bewerkstelligende Versuche beschrieben wurden, fand ich spannend und probierte alles aus. Schon am ersten Weihnachtsfeiertag stocherte ich hinterm Gutsschloß im modrigen Grund der flachen Teiche zwischen dem dort faulenden schwarzen Altlaub nach Sumpfgas, also nach Methan, um es mit einer pneumatischen Flasche aufzufangen und dann mit beeindruckend blauem Flämmchen abzufackeln.

Einmal, als ich schon älter war, schenkten die Eltern mir ein Luftgewehr. Keine Pazifistenweihnacht. Mein Vater und ich ballerten übers Fest auf GST-Zielscheiben, nachdem er mir gezeigt hatte, wie man das Gewehr einzieht und damit ins Schwarze trifft. Die plattgeflatschten Diabolo-Projektile klaubte ich aus dem Kugelfang und bewahrte sie fürs Bleigießen auf.

Entenbraten und Kartoffelsalat

Mein größter Frevel. Plötzlich zielte ich auf einen Spatz, traf ihn, hielt dann den kleinen noch warmen Kadaver in der Hand, sah den aufgesperrten kleinen Schnabel und erkannte, ich Mörder hatte ihn um das nächste Frühjahr gebracht, während mein Vater doch täglich die Vogelfütterung besorgte. Dann heulte ich. Und töte nie wieder willkürlich ein Lebewesen.

Heiligabend gab es jedenfalls immer Kartoffelsalat in einer polnischen Variante – ohne Mayonnaise, dafür mit halb weichgekochtem Eigelb, zerdrückt und verrührt mit Öl, Essig und wenig Zwiebeln, dann das Eiweiß herangeschnippelt, dazu saure Gurken gewürfelt, Gurkenwasser und Öl. Pellkartoffel-Scheiben dazu, Salz, Pfeffer, noch abgeschmeckt und schon fertig. Danach saßen wir zu dritt und unterhielten uns. Die Weihnachtsfeiertage sehr beschaulich. Entenbraten natürlich. Natürlich von einem Bauern, der die Tiere selbst zog. Viel Ruhe, viel Lektüre, das Ausprobieren der Geschenke. Mein Vater und ich oft auf dem Fahrrad, Besuche bei seinen Prignitzer Verwandten abradelnd. Hier und da ein Schnäpschen. Immer die Alleenstraßen in diesem Dezemberlicht entlang, während das Jahr so wegdämmerte und in die Stille verschwand.

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