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Mißbrauchsvorwürfe: Intimität braucht Schranken

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Mißbrauchsvorwürfe
 

Intimität braucht Schranken

Homoerotische Beziehungen in der Erziehung sind ein altes Phänomen. Um sexuellen Mißbrauch zu verhindern, sollteallzu großer Nähe zu den Schutzbefohlenen mißtraut werden.
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Darstellung eines griechischen Eromenos (Geliebten) auf einer attischen rotfigurigen Trinkschale (um 470 v. Chr.) Foto: Wikimedia/Bibi Saint-Pol

In jedem Erziehungsverhältnis geht es um Machtfragen. Dasselbe gilt von jedem sexuellen Verhältnis. Daß beide sich überschneiden, war in der Vergangenheit nicht ungewöhnlich, sowenig wie die Neigung des Mächtigen, den Machtlosen auszubeuten, also die Tendenz des Erziehers, dem Zögling sexuelle Dienste abzufordern.

Da Erziehung nach dem Ende der Kindheit innerhalb der eigenen Geschlechtsgruppe erfolgte, spielte vor allem männliche Homosexualität eine Rolle. Von der Päderastie in den „Heiligen Scharen“ der Antike bis zum entsprechenden Verhältnis zwischen japanischen Samurai und ihren „Knappen“, von den Jagd-„Gefährten“ primitiver Stämme auf dem Balkan bis zur Vasallität der jüngeren gegenüber älteren Schülern an englischen Internaten gab es zahlreiche Modelle einer Beziehung, in der die Rede vom „pädagogischen Eros“ einen anderen als den übertragenen Sinn hatte.

Zwar gab es Kritik und mit Beginn der christlichen Ära massive Repressionen, aber immer wieder haben sich auch Befürworter gefunden, vor allem Verteidiger der Päderastie. Gottfried Benn schrieb jedenfalls voller Enthusiasmus über das antike Sparta: „Dorisch ist die Knabenliebe, damit der Held beim Mann bleibt, die Liebe der Kriegszüge, solche Paare standen wie ein Wall und fielen. Es war erotische Mystik: der Ritter umamte den Knaben wie der Gatte das Weib und übertrug ihm seine Arete, vermischte ihn mit seiner Tugend.“

Über-Macht des Älteren und Machtlosigkeit des Jüngeren

Was solche Pädagogik – wörtlich: „Knabenleitung“ – für die Heranwachsenden tatsächlich bedeutete, wird durch die schönen Worte des Dichters eher verdeckt als enthüllt. Denn wie auch immer die „Werbung“ ausgesehen haben mag, den Ausschlag gab die Über-Macht des Älteren und die Machtlosigkeit des Jüngeren, der „erhören“ mußte. Deshalb sind in modernen Staaten so zahlreiche gesetzliche Regeln geschaffen worden, um sexuelle Attacken von Erwachsenen auf Kinder und Jugendliche streng zu bestrafen. Wenn solche Bestrebungen aber erfolglos bleiben, liegt das in der Natur der Sache.

Das muß man auch geltend machen bei der Beurteilung der Fälle von sexuellem Mißbrauch an verschiedenen Bildungseinrichtungen, die jetzt zutage kommen. Denn es spricht wenig dafür, daß die Vorfälle auf die gesellschaftliche Dekadenz im allgemeinen (Stichwort: „Sexualisierung“) oder die katholischen Askeseforderungen im besonderen (Stichwort: „Zölibat“) zurückzuführen sind. Es spricht viel für die Annahme, daß es hier um ein Problem geht, das immer wieder auftreten kann. >>

In seiner großen Arbeit über den Mythos vom Zivilisationsprozeß hat der Ethnologe Hans Peter Duerr zur Erklärung auf den Zusammenhang von sexuell motivierter Gewalt und fehlender sozialer Kontrolle hingewiesen. Der kann seinen Grund in der Anonymität haben. So durfte sich eine Frau in den Dörfern des ausgehenden Mittelalters relativ sicher fühlen, während es in den Städten kaum ratsam war, nach Einbruch der Dunkelheit auf die Straße zu gehen; unter den Vergewaltigern, die im London des 16. Jahrhunderts aufgegriffen wurden, fanden sich viele Fremde, die gehofft hatten, davonzukommen, weil sie unbekannt und jedenfalls schwerer zu identifizieren waren.

Unrechtscharakter der Handlung offensichtlich

Daneben spielt das Selbstverständnis der Opfer eine Rolle, falls diese meinen, den Übergriff in irgendeiner Weise provoziert zu haben und ihn deshalb nicht anzeigen. In den achtziger Jahren setzte die Frankfurter Polizei Beamte in Badekleidung in den Schwimmbädern ein, um Angriffe auf türkische Mädchen zu verhindern, die aus Scham auch dann schwiegen, wenn sie sexuell attackiert wurden. Soziale Kontrolle wird außerdem auch durch Intimität und Exklusivität erschwert. Intimität wirkt sich vor allem aus, wenn ein Verhältnis gegeben ist, in dem noch Überwältigung und Zwang als „Liebe“ ausgegeben werden, ein Zusammenspiel, das vor allem, aber nicht nur bei Inzest von Bedeutung ist.

Was die Exklusivität betrifft, geht es um eine besonders einflußreiche Norm, insofern der Schutz einer geschlossenen Einheit regelmäßig als Wert an sich betrachtet wird. Deshalb duldet man sexuellen Mißbrauch durch Ranghöhere auch dann und bestreitet ihn gegenüber Außenstehenden, wenn der Unrechtscharakter der Handlung offensichtlich ist. Das größere Ganze erscheint so wichtig, daß es auch um den Preis der Vertuschung eines Vergehens oder Verbrechens geschützt werden soll.

Wahrscheinlich erklären die beiden zuletzt genannten Muster, warum so viele Opfer der jüngst bekanntgewordenen Mißbrauchsfälle so lange geschwiegen und die beteiligten Institutionen so lange jede Schuld geleugnet haben. In einer Erziehungseinrichtung mit dem „ganzheitlichen“ Selbstverständnis der Odenwaldschule ist die Gefahr der Tarnung von sexueller Gewalt als Intimität am größten. Aber es spielt wahrscheinlich auch ein gewisser „Korpsgeist“ mit, der es erschwert, Mißstände abzustellen und Verantwortliche zur Rechenschaft zu ziehen.

Gefahr läßt sich nicht gänzlich ausschließen

Dieses Motiv dürfte auch das Verhalten der katholischen Kirche angesichts der gegen ihre Priester und Ordensleute erhobenen Vorwürfe erklären. Es ging darum, einen möglichen Schaden von der Institution selbst dann abzuwenden, wenn man wußte oder mindestens der begründete Verdacht bestand, daß sich einzelne schuldig gemacht hatten.

Die damit getroffenen Feststellungen werden niemanden zufriedenstellen, der eine vollständige und rasche Lösung des Problems erwartet, dem nicht nur die Bestrafung der Verantwortlichen vor Augen steht, sondern auch eine Änderung der Gesamtsituation dahingehend, daß sich nicht wiederholen kann, was geschehen ist. Es sind aber keine juristischen oder sonstigen Regelungen denkbar, mit deren Hilfe sich die Gefahr des sexuellen Mißbrauchs von Schutzbefohlenen gänzlich ausschließen läßt.

Man kann nur versuchen, den Schutz, den die Anonymität bietet, zu beschränken, die Opfer zu ermutigen, allzu großer Intimität zu mißtrauen und gegen jede Selbstherrlichkeit von Organisationen einzuschreiten, die meinen, nicht den allgemein gültigen Rechtsvorschriften unterworfen zu sein. 

JF 11/10

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