Der Vorspann offeriert dem Zuschauer ein grausliches Zukunftszenario: „Europa ist im Chaos versunken. Rechtsextreme haben in vielen Ländern die Macht übernommen. Es herrschen Unterdrückung, Willkür und Gewalt. Täglich werden Menschen verhaftet. Viele verschwinden für immer.“ Angespannt verfolgt Anwaltsgattin Sarah Schneider, Mutter zweier Kinder, die Fernsehnachrichten. Journalisten der „volksfeindlichen“ Süddeutschen Post werden aus dem Redaktionsgebäude gezerrt und in einen Polizeitransporter gestoßen.
Schweden ist eben faschistisch geworden und fällt als Exilland aus. Ehemann Jan kommt aufgelöst nach Hause. An der Stirn klebt Blut, er ist einer „Bürgerbrigade“ in die Hände gefallen. In der Nacht sollen die Verhaftungen beginnen, er stehe „auf der Liste“, weil er in einer Enteignungsgeschichte die falsche Seite vertreten habe! Den Schneiders bleibt nur der Aufbruch ins Ungewisse: Ein Frachter soll sie und andere Verfolgte – Andersdenkende, Ausländer, Schwule – nach Kapstadt, Südafrika, bringen. Das Land erlebt einen Wirtschaftsboom, gilt als stabil und generös.
Katharsiseffekt erwünscht
Doch die Flüchtlinge werden vorzeitig in einem überfüllten Schlauchboot vor der Küste Namibias ausgesetzt. Es kentert, wobei Niki, der kleine Sohn, über Bord geht. Weil den Flüchtlingen in Namibia die Abschiebung nach Deutschland droht, lassen die Schneiders sich von Schleppern nach Südafrika bringen, wo sie in die Mühlen einer herzlosen Bürokratie und in die Monotonie des Lagerlebens geraten …
Der Film gehört zu einem ARD-Themenabend. Anschließend soll eine Runde um Sandra Maischberger klären, welche Lehren daraus zu ziehen sind. Ob die Zuschauer so lange durchhalten? Nach weniger als zehn Minuten hat auch der Letzte begriffen, worum es den Filmemachern, ihren Geld- und Auftraggebern geht. Die Zuschauer sollen im fiktiven Los der Schneiders das reale Schicksal der nach Europa einströmenden Afrikaner erkennen. In einem zweiten Schritt sollen sie es als Möglichkeit auf sich beziehen und im dritten Schritt zu der Erkenntnis kommen, daß die Politik der offenen Grenzen aus humanitären Gründen wie aus potentiellem Eigennutz richtig ist. Mit Lessing gesprochen: Durch auf sich selbst bezogenes Mitleid sollen sie zur Katharsis gelangen!
Damit die Erzählung maximal glaubwürdig wirkt, haben die Macher laut Eigenwerbung „einen renommierten Zukunftsforscher von der Ludwig-Maximilians-Universität München über das gesellschaftspolitische Setting“ konsultiert. Er hat sie darüber aufgeklärt, „daß der Rechtsnationalismus ein ganz zentrales Thema sein kann“ und auf die Ereignisse nach dem Putschversuch 2016 in der Türkei hingewiesen: „In einem europäischen Land wurden auf einmal Zeitungen und Sender geschlossen, Ärzte, Lehrer und Rechtsanwälte kamen in Haft.“
Politisch korrekte Halluzinationen
Nicht alles was hinkt, ist deswegen ein Vergleich. Die aktuelle Völkerwanderung wird nicht durch politische Verfolgung ausgelöst, sondern es entlädt sich aus wenig produktiven Gegenden ein Bevölkerungsüberschuß nach Europa. Die Türkei wiederum ist nur teilweise ein europäisches Land. Die Konflikte, auf die der Zukunftsforscher hinweist, resultieren wesentlich aus dem Zusammenstoß zwischen säkularen Kräften und den Anhängern jener Religion, die gerade in Europa implementiert wird. Der Film aber versetzt sie in die Rolle der diskriminierten Unschuld.
Die Katharsis wird ausbleiben, denn Dystopien gehorchen keinen politischen Zweckmäßigkeiten oder Wünschbarkeiten. Sie überzeugen nur, wenn sie tatsächliche Erlebnismuster, Phänomene und Entwicklungen aus der Gegenwart in die Zukunft verlängern. Sie zeigen das Noch-nicht-Wirkliche, jedoch Mögliche oder Erwartbare. Die dystopische Übersteigung der empirischen Realität zeigt deren unheilvolles Potential auf und erzeugt damit beim Zuschauer Spannung, Schauder und Erkenntnisgewinn.
Statt sich um die Wirklichkeit zu kümmern, haben die Filmemacher politisch korrekte Halluzinationen inszeniert. Weder haben sie sich für die Realität in deutschen Fußgängerzonen und öffentlichen Verkehrsmitteln noch für die Sozial- und Kriminalitätsstatistik oder die demographische Entwicklung interessiert. Der Film läßt im dunkeln, welche Ereignisse die Spannungen so sehr verschärft haben, daß sie in einen – imaginierten – faschistischen Umsturz mündeten.
Wahnwelt mit komischen Effekten
Die Dialoge könnten von Heribert Prantl stammen. Eine Frau berichtet, daß ihr Schwiegersohn, ein Moslem, umgebracht worden sei. Die Tochter sei verschwunden, als sie sich nach dem Schicksal ihres Mannes erkundigte. Ein Schwuler klagt, man habe seinen Mann nicht mehr ärztlich behandelt, zum Glück sei er rasch gestorben. Eine regimekritische Bloggerin wurde mehrfach vergewaltigt und ist schwanger geworden.
Kein Klischee wird ausgelassen. Nora, die Tochter der Schneiders, knüpft zarte Liebesbande zu Batu, der seiner türkischen Herkunft wegen aus Deutschland fliehen mußte und schon länger im Lager lebt. Der Zuschauer kommt ins Grübeln: Hätte die Türkei als Fluchtort nicht näher gelegen? Ein semmelblonder Mitasylant nennt Batu einen „Ziegenficker“, worauf der auf ihn einschlägt, bis Nora seinen gerechten Zorn bändigen kann.
Weil der Film laufend über die eigenen Füße stolpert, gewährt er der Wirklichkeit unfreiwillig Einlaß in seine Wahnwelt. Das führt zu komischen Effekten. Als ein schwarzafrikanischer Schlepper sich anschickt, Nora zu vergewaltigen, tauchen vor dem geistigen Auge des Zuschauers umgehend „Köln“ und andere polizeibekannte Orte auf. Seltsam ist auch, daß die Flucht ins ferne Südafrika und nicht ins nahe Marokko führt. Oder in den Senegal. Oder nach Nigeria.
Die Schauspieler verdienen Mitleid
Das nahe Zukunftsbild eines prosperierenden Staates in Nord- oder Schwarzafrika haben die Autoren dem Zuschauer nicht zuzumuten gewagt. Soviel Absurdität hätte sogar den halluzinatorischen Rahmen das Films gesprengt. Doch welche Schlußfolgerungen kann der Zuschauer angesichts der afrikanischen Masseneinwanderung daraus ziehen? Unterschlagen wird, daß in Südafrika Tausende weiße Farmer ermordet worden sind und Julius Malema, der Gründer der Economic Freedom Fighters, der das von Mugabe heruntergewirtschaftete Simbabwe als vorbildlich preist, mit rassistischen Sprüchen ständig an Boden gewinnt. Der Film ist ein einziges dramaturgisches Chaos!
Die Schauspieler verdienen Mitleid. Ihr Spiel ist fast durchweg grottenschlecht. Mit hölzernen Gesichtern, als kollektives Leiden Christi, quälen sie sich durch die Handlung und spielen gegen alle Plausibilität und Wahrscheinlichkeit an. Als Parodie auf die verrückte Politik und ihre mediale Begleitmusik, als Klamotte, hätte „Aufbruch ins Ungewisse“ vielleicht eine Chance gehabt. Auf Tragödie getrimmt, ist der Film zum indiskutablen, politisch motivierten Machwerk aus der Abteilung Volksverdummung und Staatspropaganda geraten. Ab einem bestimmten Punkt müssen die Darsteller sich gesagt haben: Augen zu und durch!
Produziert wurde das Agitprop-Stück vom WDR und der Degeto (Deutsche Gesellschaft für Ton und Film), einer hundertprozentigen Tochter der ARD. Chefin der Degeto ist Christine Strobl, Ehefrau des CDU-Innenministers aus Baden-Württemberg, Thomas Strobl, und Tochter Wolfgang Schäubles. Ein politisch-medialer Komplex en famille, der komplettiert wird durch eine weitere Schäuble-Tochter, Juliane, die das Politikressort des Berliner Tagesspiegel leitet, eine der schrillsten Stimmen im Chor der Willkommens-Medien! Das Politische und das Ästhetische bilden auch in „Aufbruch ins Ungewisse“ eine unauflösliche Einheit. Das ausweglos Häßliche des Films entspricht der Falschheit und Bösartigkeit der praktizierten Politik.
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Der Film „Aufbruch ins Ungewisse“ läuft am 14. Februar um 20.15 Uhr in der ARD. Anschließend befaßt sich Sandra Maischberger in ihrer Talkshow mit dem Thema „Flucht aus Europa“.
JF 07/18