Baroneß Catherine Ashton, die Hohe Vertreterin der Europäischen Union für die Außen- und Sicherheitspolitik, hat die Chance, die ihr das Erdbeben auf Haiti zur Profilierung auf dem internationalen Parkett geboten hat, nicht genutzt. Während ihre amerikanische Amtskollegin Hillary Clinton schon wenige Tage nach der Katastrophe in Port-au-Prince nach dem Rechten schaute, glänzt sie bislang durch Abwesenheit.
Dieses Versäumnis hat ihr im Europäischen Parlament deutliche Worte der Kritik eingetragen. Für die Fraktion der christdemokratischen Europäischen Volkspartei monierte ihr Vorsitzender Joseph Daul, daß doch nahezu jeder nach Haiti geeilt sei, um bei den leidenden Menschen zu sein, und allein Europa es an Präsenz mangeln lasse. Daniel Cohn-Bendit als Vertreter der Grünen schloß sich dieser Auffassung an. Ashtons Performance sei unzureichend gewesen. Er an ihrer Stelle hätte das erstbeste Flugzeug nach Haiti bestiegen, um nach der Rückkehr berichten zu können, was Europa zu tun habe.
Nähme man diese Einwände gegen Ashtons Attentismus im wortwörtlichen Sinne ernst, ließen sie sich natürlich leicht entkräften. Um die Lage auf Haiti beurteilen und den Bedarf der Bevölkerung ermitteln zu können, sind hochrangige Politikerdelegationen nicht erforderlich. Dazu gibt es im Katastrophenmanagement erfahrene Einsatzkräfte, die durch Betreuung, Information und Schutz prominenter Besucher sogar eher davon abgehalten werden, ihren eigentlichen Aufgaben nachzugehen. Das Versprechen der EU, einen stattlichen finanziellen Betrag zum Wiederaufbau bereitzustellen, ist überdies mehr wert als eifriger Aktionismus, zumal die Lage vor Ort dank des Eingreifens der in Invasionen auf Haiti erfahrenen US-Streitkräfte unter Kontrolle ist.
Hat Ashton somit in pragmatischer Betrachtung alles zur Hilfe für Haiti getan, was in ihrer Macht stand, so war doch ihre persönliche Zurückhaltung allzu vornehm. Sie hat das psychologische Moment dieser Katastrophe nicht erkannt und es versäumt, ein Zeichen zu setzen. Die Menschen bedürfen in derartigen Ausnahmesituationen des emotionellen Beistandes – und zwar gar nicht so sehr die direkt Betroffenen auf Haiti, die sie sowieso nicht kennen, sondern jene in Europa, die ohnmächtig zuschauend am Leid der anderen leiden.
Schon einmal hat ein Erdbeben – jenes, das Lissabon 1755 verwüstete – sehr viele Zeitgenossen vom Fortschrittsglauben abgebracht. Eine neuerliche Erschütterung des Optimismus können wir heute weniger denn je gebrauchen.