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Den Wildwuchs hegen und pflegen

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Cato, Palmer, Exklusiv

Wieder mal sah sich FAZ-Mitherausgeber Frank Schirrmacher als Inkarnation eines Zeitproblems, wähnte die Massen im schweigenden Einverständnis hinter sich. Das gab ihm den Mut zu einem atemberaubenden Seelen-Strip: „Was mich angeht, so muß ich bekennen, daß ich den geistigen Anforderungen unserer Zeit nicht mehr gewachsen bin“, verkündete er den erschütterten Spiegel-Lesern.

Dieser Bekenntnis-Text, „Mein Kopf kommt nicht mehr mit“ – eine Kurzversion seines „Payback“-Buches –, nannte auch gleich den Schuldigen: eine übermächtige Datenflut, die durch Handy, Internet und andere Kommunikationsmittel zu ihm vordrang. „Ich bin unkonzentriert, vergeßlich, und mein Hirn gibt jeder Ablenkung nach. Ich lebe ständig mit dem Gefühl, eine Information zu versäumen oder zu vergessen. Und das Schlimmste: Ich weiß noch nicht einmal, ob das, was ich weiß, wichtig ist oder das, was ich vergessen habe, unwichtig.“

Wie gesagt, Schirrmacher glaubt sich in seiner Überforderung nicht allein: „Ich schließe von meinem Kopf auf viele Köpfe und darauf, daß es mir wie vielen geht.“ Nun, damit könnte er recht haben. Tatsächlich läßt das mehrstimmige Gewinsel über die Unübersichtlichkeit, über das Fehlen einer Internet-Redaktion auf einen großen Chor schließen. Nur, was ist damit gesagt? Ist die Gattung Mensch durch moderne Informationstechnologie tatsächlich überfordert, oder bringt letztere nicht vielmehr eine Schwäche zahlreicher Zeitgenossen ans Licht? Ein Manko, mit dem sich bis eben noch prachtvoll leben ließ? Womöglich einen Mangel an Persönlichkeitsstruktur, eine Unfähigkeit, eigene Schwerpunkte und Maßstäbe zu setzen?

Es ist mehr als verdächtig, wenn ein Zeitungschef gesteht, nicht mehr zu wissen, „ob das, was ich weiß, wichtig ist oder das, was ich vergessen habe, unwichtig“. Daran soll nur die Quantität der Fakten schuld sein? Als Medienmensch in Führungsposition unterliegt doch (auch) seiner Entscheidung, was „wichtig“ ist oder wird. Er kann zum Beispiel eine marginale Sache „wichtig“ machen, indem er sie zum Aufmacher erklärt und überzeugend unterfüttert. Oder glaubt Schirrmacher an „objektive Kriterien“ für die Wichtigkeit einer Sache?

Wohl kaum, aber zum Setzen eigener Prioritäten bedarf es eben der fest strukturierten Persönlichkeit, die im Meer von Daten und Fakten ihre Perspektive behauptet – während jene, die auf längst abgetrampelten Pfaden den Informations-Pionier spielten, plötzlich mit ihrer Maskerade überfordert sind. Schon vor vierzehn Jahren beklagte der Germanist Rembert Hüser bei der Schirrmacher-Generation das Fehlen „eigener Themen“ und des „eigenen Tons“. Und wirklich, welche inhaltlichen Schwerpunkte wird man später mit Schirrmachers FAZ-Ära verbinden? Die Antwort dürfte schwierig werden. Auch da ist er würdiger Stellvertreter einer Mehrheit.

1996 wünschte der Philosoph Frieder Lauxmann eine Fahrt „Mit Hegel auf der Datenautobahn“. Sehr gute Partnerwahl, da kann man ihm nur gratulieren. Denn Hegel war eine solche Persönlichkeit, die heute wieder Verwendung fände, nach allem fachspezifischen und fragmentierten Denken: jemand, der aus innerer Not getrieben und mit ausreichendem Intellekt versehen, die – auch damals schon unüberschaubare – Menge an Fakten zu einer eigenen Vernetzung brachte, einem Ordnungssystem, das mit unzähligen Querverweisen, Assoziationen sortierte. Hegel, so glaubt Lauxmann, hätte sich mit Begeisterung ins Internet gestürzt. Vor allem: Der Philosoph hätte keine Angst gehabt, den Geisterfahrer zu machen. Im Gegenteil, er „würde den kleingeistigen Gegenverkehr sicher überwinden, er könnte abheben“. Von der Vergänglichkeit alles Materiellen entsetzt, hoffte Hegel, daß der dialektische Weltprozeß zuletzt alle Realität in Begriffe „aufhebe“: in Begriffe, miteinander verbunden wie ein Spinnennetz – oder wie im Internet, im Netzwerk der Suchbegriffe.

Halten wir fest: Die Datenflut des Internet entlarvt eine Schwäche, sorgt für Verunsicherung bei jenen, die ihr Strukturdefizit zuvor verbergen konnten. Das waren und sind die meisten. Zugleich eröffnet sich dadurch eine neue Definition von „Stärke“, die weder Schwarzenegger zitieren noch sozialdarwinistische Hunde wecken will. „Stark“ ist in der heutigen Wissensgesellschaft, wer die Datenfluten sortieren kann; wer sie vorsortiert für all jene, deren Persönlichkeitsstruktur überfordert ist. Man könnte gar von einer neuen „Elite“ sprechen. Solche Persönlichkeiten bleiben immer Ausnahme, schon weil das Bildungssystem sie zu keiner Zeit förderte, sondern sabotierte. Die Schule, seit ihrem Bestehen eine Mastanstalt für unreflektiertes Stopfen, sieht den Großteil ihrer Zombiezucht in der Datenflut versinken.

Jemand mit „starkem“ Persönlichkeitsformat ist Alexander Kluge. Der 77jährige Filmemacher erbringt den Beweis, daß diese neue Art von „Stärke“ keine Generationsfrage ist – also nicht Menschen vorbehalten bleibt, die mit dem Internet aufwuchsen. Schon Kluges frühe Filmcollagen, Prosatexte, sein dctp-TV zeigen ihn seit Jahrzehnten als enzyklopädischen Sammler und Sortierer, der alles Gefundene in große assoziative Netze einspeist, der sich auch durch das Internet keineswegs überfordert fühlt.

Erst kürzlich erklärte Kluge im Interview mit der Wochenzeitung Freitag die produktive Sammelleidenschaft der Brüder Grimm als Vorbild. Überzeugt, daß der Mensch Überlebensprogramme in den Genen trägt, die alle Lösungs-Kapazität seiner Verstandeskultur weit übertreffen, kritisiert er Schirrmachers „Payback“ als ein „sehr pessimistisches Buch. Ich würde da nach Auswegen suchen.“ Wie die aussähen? Eine Begrenzung der Datenflut scheint ihm als Verteidigungsstrategie unumgänglich. Und die werde bereits praktiziert: „Sie können beobachten, daß Menschen, die das Netz nutzen, fast immun sind gegen die Fülle an Informationen, die nehmen die ersten 40 Worte und lassen 1.800 aus“.

Freilich ist man da der willkürlichen Anordnung der Suchmaschinen ausgeliefert. Deshalb: „Was wir brauchen, sind  abgegrenzte Räume, in denen die Datenmassen gesammelt, sortiert und reduziert werden. Gärten, Häfen, Gefäße, welche Metapher Sie wollen. Da das Bedürfnis nach Reduktion wächst, werden solche Gärten auch benutzt werden. Man muß sie nur bauen, diese Gärten im Netz.“ In diesem Sinne begreift Kluge auch seine wöchentlichen Fernsehbeiträge. Ergo würde dem manischen Sammler und Sortierer die „Berufsbezeichnung ‘Gärtner’ gefallen“.

 Die Metapher des „Gärtners“ für die künftigen „Starken“ ist doppelt gelungen. Erstens weil der Garten spätestens seit dem frühen Mittelalter, seit Walahfrid Strabo, Symbol universeller Klassifizierung ist. Und weil er zweitens nicht primär verwaltende, sondern ästhetische Beherrschung des wild Wachsenden intendiert. Mögen sich die ewig Überforderten künftig daran erfreuen.

Foto: Ertrinkender in der Datenflut: Die moderne Technologie sorgt für Verunsicherung bei jenen, die ihr Strukturdefizit zuvor verbergen konnten

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