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Westminster-Demokratie in weiter Ferne

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Cato, Palmer, Exklusiv

Thomas Roth war Hörfunkdirektor des WDR und lange Jahre ARD- Korrespondent in Moskau. In seinem Buch schildert er anschaulich die dramatische Entwicklung Rußlands im Zuge seines Systemumbruchs und die schwerwiegenden Folgen für seine Bevölkerung. Die Leiden des russischen Volkes unter Stalin waren ungeheuerlich, aber die Loslösung von dieser Zeit brachte auch schwere Belastungen mit sich. Sie kam einer Schocktherapie gleich und bescherte Rußland eine Hyperinflation, so daß manche resignierend ihre Währung als Holzrubel bezeichneten. Es bildeten sich soziologische Phänomene eines Raubtierkapitalismus und daraus folgend eines übersteigerten Nationalismus samt dessen unvermeidlicher Kehrseite Antisemitismus und heftiger Fremdenfeindlichkeit heraus. Grund für letzteres boten die sagenhafte Reichtümer anhäufenden „Oligarchen“, nicht selten ehemalige Geheimdienstleute jüdischer Abstammung, die ihr Insiderwissen nutzten und Staatsbetriebe in kommerzielle Unternehmungen umwandelten. Sie besaßen beinahe ein Pressemonopol, legten sich kleine Privatarmeen zu, und Mord auf der Straße wurde zur Alltäglichkeit. Vielen dieser Auswüchse machte Wladimir Putin ein Ende, er befreite sich aus der Macht der Jelzinschen Kamarilla und wurde zum starken Mann Rußlands. Dabei gerierte er sich keineswegs als lupenreiner Demokrat, wie ihn einst Gerhard Schröder bezeichnete, sondern führte eine „gelenkte Demokratie“, wie er es selbst nannte. Beinahe anerkennend beschreibt Roth diese Vorgehensweise. Daß Rußland sich in absehbarer Zeit zu einer Westminster-Demokratie entwickeln könnte, hält er angesichts seiner Struktur und Geschichte fast für unmöglich. Danach stehe dem russischen Volk in letzter Konsequenz auch gar nicht der Sinn, es habe sich längst mit allen Zaren arrangiert, seien sie weiß oder rot. Das russische Volk möchte seinem Leiden einen Sinn geben, interpretiert Roth, und ist bereit, manche Schrecken der Geschichte zu vergessen. Instinktsicher greift die Putinsche Regierung dabei auch auf Symbole der Vergangenheit zurück: Roter Stern und Zarenadler stehen einträchtig beinander. Er beschreibt eingehend das Wiederaufleben der orthodoxen religiösen Traditionen und nennt es „spirituelle Sicherheit“ fürs Volk. Offensichtlich versagt ihm auch Putin trotz seiner moderat kritischen Distanz nicht ganz die Anerkennung, lädt den Journalisten zum familiären Abendessen ein, beider Töchter besuchen gemeinsam die deutsche Schule in Moskau. Überhaupt betont Putin immer wieder seine Zuneigung für Deutschland und seine Bereitschaft zur Kooperation mit dem Westen. Roths psychologische Einfühlsamkeit und seine Kenntnis der russischen Geschichte und Sprache ergeben spannende Psychogramme der politischen Protagonisten des gegenwärtigen Rußland. In einer großen tour d‘horizon läßt Roth noch einmal die Ereignisse der jüngsten Vergangenheit Revue passieren: den grausamen Krieg in Tschetschenien, den Atomunfall der „Kursk“ und den „Olympia-Krieg“ mit Georgien im August 2008. Am Beispiel Gasprom zeigt er die Zusammenarbeit mit Wintershall und E-on und macht deutlich, daß Kooperation für Rußland und Deutschland von beiderseitigem Interesse ist. Einen Rückfall in den Kalten Krieg hält er für ein Hirngespinst. Roth macht in seiner von Kenntnisreichtum und plastischer Beschreibungskraft geprägten Arbeit allerdings auch deutlich, daß Putin im Zweifelsfall Rußlands Interessen knallhart durchsetzt. Die Innenseite des Buchdeckels zeigt eine Landkarte des Riesenreichs. Diese weist auf, wie erfolgreich die Zaren einst im „Sammeln der russischen Erde“ waren, und die ungeheuren Dimensionen dieses größten Flächenstaates der Erde  deuten an, daß das bevölkerungsstagnierende Land kaum expansive geopolitische Ambitionen haben dürfte. Es liegt eher nahe, daß das 1,5-Milliarden-Volk des chinesischen Nachbarn sich irgendwann in die fast menschenleeren Weiten seines fernen Ostens ausdehnen wird. Thomas Roth: Rußland. Das wahre Gesicht einer Weltmacht. Piper Verlag, München 2008, gebunden, 331 Seiten, Abbildungen, 19,90 Euro Foto: Geplanter Gasprom-Turm in St. Petersburg: Machtsymbol

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