Er lag im Bett. Fröstelnd, hustend und schwitzend, kaum in der Lage, einen klaren Gedanken zu fassen. „Die Verhandlungen mit dem Kabinett waren mir durch meine Krankheit sehr erschwert“, bekannte Prinz Max von Baden später in seinen Erinnerungen. Bereits mit seiner Ernennung zum Reichskanzler am 3. Oktober 1918 schlug im Deutschen Reich das Wetter um. Den schönen Altweibersommertagen folgte ein naßkaltes Herbstwetter – und mit diesem erreichte das kriegsmüde Reich die zweite Welle von H1N1.
Mitte Oktober empfahlen die Münchner Neuesten Nachrichten, angesichts von vielen tausend Infizierten der „Spanischen Grippe“ die Öffentlichkeit zu meiden, in vielen Großstädten schlossen die öffentlichen Schulen. Währenddessen scherte ein Verbündeter nach dem anderem aus dem Bündnis der Mittelmächte aus, geriet die Westfront ins Wanken. Britische Truppe eroberten große Teile Flanderns, die Front konnte erst östlich der Schelde wieder stabilisiert werden. Und ausgerechnet in diesen schweren Tagen war der Reichskanzler „unfähig, die Geschäfte zu führen“, wie Kaiser Wilhelm II. beklagte, der selbst zur gleichen Zeit die Teilnahme an einer wichtigen Unterredung aus Angst von einer Ansteckung verweigerte.
Nach zwei Wochen Bettlägerigkeit konnte Prinz Max Ende Oktober endlich wieder politisch agieren und noch gerade den Reichstagsbeschluß seiner Verfassungsreform erleben, der aus dem Deutschen Reich eine parlamentarische Demokratie machte. Dann erlitt er einen schweren Rückfall, der seinen Arzt veranlaßte, ihn für Tage medikamentös in den Schlaf zu versetzen. Als er am Nachmittag des 3. November erwachte, hatten ihn die Ereignisse gänzlich überrollt: Mit Österreich-Ungarns Kapitulation waren die Mittelmächte am Ende, die Revolution bahnte sich bereits von den meuternden Matrosen in Kiel und Wilhelmshaven ausgehend ihren Weg in Richtung Berlin. Ein Virus, nicht der Reichskanzler machte Politik.
Auch wenn augenblicklich die internationale Aufmerksamkeit auf das hauptsächlich in Nordamerika grassierende Grippevirus A/H1N1 gerichtet ist und die Weltgesundheitsorganisation (WHO) bis Anfang Mai noch davon ausging, daß sich diese „Schweinegrippe“ weltweit ausbreiten und sie demzufolge sogar die höchste Pandemie-Alarmstufe 6 ausrufen werde, sind politische Auswirkungen oder ein Massensterben wie bei der „Spanischen Grippe“ nicht zu befürchten. Dem Robert-Koch-Institut (RKI) zufolge wurden diese Woche bereits erste Isolate des Virus im Labor gezüchtet, die Grundlage für einen Impfstoff sind.
Ähnlich wie die derzeitige Grippe trat übrigens auch die Pandemie der Jahre 1918/1919 erstmals in Übersee auf und nicht auf der iberischen Halbinsel, wie der Name suggerieren könnte. Wie der Berliner Historiker und Arzt Wilfried Witte in seinem jetzt ungeahnte Aktualität erwerbenden Werk zu dieser Krankheit hervorhebt, begann alles im März 1918 im Südwesten des US-Bundeststaates Kansas. Schüler im Städtchen Haskell und Soldaten im naheliegenden Camp Funston erkrankten als erste an der Grippe. Die Ausbreitung auf den alten Kontinent vollzog sich dann über die Truppenschiffe, mit denen die US-Boys zur Verstärkung der alliierten Front in Nordfrankreich den Atlantik überquerten. „Spanisch“ wurde die Grippe erst dadurch, daß frühe Berichte über ihr Auftreten im nicht kriegführenden Spanien in Umlauf kamen, da dort die Pressezensur weniger Einfluß auf die Berichterstattung nahm. Als dann die britische Nachrichtenagentur Reuters am 27. Mai 1918 meldete, daß der spanische König höchstselbst an der Grippe erkrankt sei, hatte sich der Name bereits verselbständigt.
Anders als derzeit, wo es bisher erst einige Dutzend Todesopfer des neuen H1N1-Virus gibt, forderte die damalige Grippe-Pandemie mehrere Millionen Tote, im Deutschen Reich zählte man 300.000, in den USA sogar 675.000. Es gibt Schätzungen von 25 bis zu 50 Millionen Toten des Virus weltweit, die allerdings wenig erhärtet sind, da weite Teile der Erde, insbesondere China und Indien keine verläßlichen Bevölkerungszahlen vor und nach der Pandemie boten. Interessant ist, daß Infizierungen von Schweinen, die derzeit in Kanada nachgewiesen wurden und deren erstes Auftreten in einem Schweinestall im mexikanischen Bundesstaat Baja California sogar ursächlich für die ganze Grippewelle sein soll, auch vor neunzig Jahren auffielen. So stießen dem Handelsvertreter John S. Koen der Fort Dodge Serum Company im US-Staat Iowa, der gleichzeitig auch im staatlichen Veterinärsdienst für das Bureau of Animal Industry als Inspektor für die „Schweinepest“ tätig war, im Herbst 1918 die bei Schweinen auftretenden Symptome auf, die denen der gleichzeitigen Grippekranken sehr ähnelten, wie Witte ausführlich referiert.
Der Spanischen Grippe von 1918/19 mit ihren schrecklichen Auswirkungen folgten etliche kleinere Grippe-Epidemien im Deutschland der zwanziger Jahre mit jeweils Zehntausenden Todesopfern. Nach 1945 verbreiteten sich noch zwei schwere, opferreiche Grippe-Pandemien über den Globus, im Winter 1957/58 die „Asiatische Grippe“ und im Winter 1968/69 die „Hongkong-Grippe“. Große Politik machte der Virus fortan jedenfalls nicht mehr.
Die vorangestellte kleine Episode über das Ende des Ersten Weltkriegs verdeutlicht aber, daß Seuchen immer wieder großen Einfluß auf den Lauf der Geschichte hatten. Dennoch haben sie proportional wenig Einzug in die Geschichtsbücher gefunden, „weil die Autoren eher eine geisteswissenschaftliche Ausbildung durchlaufen haben“, wie Manfred Vasold in seinem Buch „Grippe, Pest und Cholera“ behauptet. Immerhin konnte er vor seinem Studium der Geschichte und der Biologie eine solide Krankenpfleger-Ausbildung vorweisen, was vielleicht seinen Blick auf die unbedarften Widrigkeiten des Alltags geschärft hat. So präsentiert er die Seuchengeschichte Europas in elf Kapiteln gegliedert, wobei er ohne allzu strenge Chronologie und ohne den Anspruch auf thematische oder geographische Lückenlosigkeit die Menschheitsgeißeln von der Pest über Cholera, Pocken, Säuglingssterblichkeit bis hin zur Grippe dekliniert.
Dabei orientieren sich seine sozialgeschichtlichen Untersuchungen auch an den großen Eckpunkten der Weltgeschichte seit dem Mittelalter. Eine große Rolle kommt natürlich dem „Schwarzen Tod“ zu, dessen plötzliches Grassieren nach 1347 das „Dunkle Jahrhundert“ für Europa mit demographischem Rückgang und Eifererphänomenen wie den Geißlerzügen oder massiven Judenpogromen bedeutete. In Deutschland bewirkte diese Zäsur den Beginn der großen „Wüstungen“ und das Versiegen der Ostkolonisation. Ob es aber überhaupt die vom Erreger Yersinia pestis hervorgerufene Krankheit war, die Europa von Südwest nach Rußland und Skandinavien durchzog, ist nicht stichhaltig bewiesen. Vasold beschreibt die Widersprüche im Krankheitsverlauf und bei den Mortalitätsraten, die gegen diese These stehen. Allerdings gibt es auch DNS-Analysen von alten Pestfriedhöfen, die tatsächlich die Rattenfloh-Seuche nachweisen. Es gilt zumindest als wahrscheinlich, daß die Schreckenbezeichnung „Pest“ bis ins 19. Jahrhundert, als Mediziner die Krankheit erst explizit nachweisen konnten, für alle möglichen Seuchen wie Fleckfieber und vor allem Cholera als Synonym galt, dem die Menschen ebenso hilflos wie unwissend gegenüberstanden.
Besonders in Kriegszeiten vollzog sich die Ausbreitung der Seuchen noch schneller und tödlicher, wenn mit den Heeren sich auch die Erreger unter der meist darbenden Bevölkerung verbreiteten. Vasold beschreibt dieses Phänomen anhand der großen Kriege des 19. Jahrhunderts sehr anschaulich und ergänzt tatsächlich mit interessanten Ergebnissen die „herkömmlichen Geschichtsbücher“, wie er es sich im Vorwort zur Aufgabe stellt. Den Leser wird zumindest überraschen, daß das Fleckfieber Napoleons Truppen 1813 weitaus mehr Opfer abverlangte als die Schlachtenlenkung Blüchers oder Schwarzenbergs, welchen entscheidenden Einfluß die Cholera auf die 1848er-Revolution hatte und daß die Pocken den deutschen und französischen Truppen im Kriege von 1870/71 mehr Verluste beibrachten als alle Schlachten von Metz über Mars-la-Tour bis Sedan zusammengenommen. Ebenso unbekannt dürfte den allermeisten Vasolds sozialgeschichtlich bedeutsame Enthüllung sein, nach der die hohe Kindersterblichkeit im 19. Jahrhundert in der besonders in Süddeutschland verbreiteten, zeitgeistbedingten Verweigerung der Mütter zum Stillen eine wesentliche Ursache hatte.
Manfred Vasold: Grippe, Pest und Cholera. Eine Geschichte der Seuchen in Europa. Franz Steiner Verlag, Stuttgart 2008, gebunden, 310 Seiten, 24,90 Euro
Wilfried Witte: Tollkirschen und Quarantäne. Die Geschichte der Spanischen Grippe. Klaus Wagenbach Verlag, Berlin 2008, gebunden, 128 Seiten, 16,90 Euro
Foto: Mundschutz gegen die Spanische Grippe 1919: „Unfähig, die Geschäfte zu führen“