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Von der Kunst des Erinnerns

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Weißmann, Reich, Republik, Nachkriegsrechte

Deutschland ist Gedächtnisweltmeister, schon zum wiederholten Mal in der noch nicht zwanzigjährigen Geschichte des internationalen „Grips-Festivals“. Die deutsche Mannschaft verteidigte jetzt in London ihren Titel und siegte in einigen Einzelwettbewerben. Dorothea Seitz aus Torgelow in Mecklenburg-Vorpommern schaffte es zudem, sage und schreibe 214 abstrakte Symbole in vorgeschriebener Reihenfolge und mit größter Schnelligkeit fehlerlos hintereinander aufzusagen. Das ist absoluter Weltrekord.

Soll man sich darüber freuen? Soll man bedenklich mit dem Kopf wackeln? Das genaue Erinnern von abstrakten Zahlenreihen und Symbolen scheint jedenfalls eine gute Versicherung gegen Altersdemenz und ausrastende Neuronen-Synapsen zu sein. Aber es könnte auch unempfindlich machen gegen die Herausforderungen der Gegenwart. Wie warnte seinerzeit schon Friedrich Nietzsche? „Wer allzu begeistert in der Erinnerung lebt, dem verdorrt der Zukunftssinn. Er wird lebensuntüchtig.“

Von dem großen, verstorbenen Zeichner und Lebenskünstler Horst Janssen ist die Feststellung überliefert: „Die größere Leistung des Gehirns liegt im Vergessen und nicht im Erinnern.“ Er meinte freilich in erster Linie das „kulturelle Gehirn“ der Völker und anderer Gemeinschaften, nicht das organische des einzelnen. Das „kulturelle Gehirn“ ist reiner Pragmatiker. Es entscheidet ganz praktisch darüber, was um des kollektiven Gedeihens und Überlebens willen zu erinnern ist und was andererseits leichten Herzens im Archiv abgelegt werden kann oder gar der damnatio memoriae, dem Vergessen, anheimfallen sollte.

Eine Nationalmannschaft, die im mechanischen Herunterschnurren von Zahlenreihen und Symbolen Weltmeister wird, und zwar sogar mehrmals hintereinander, muß nicht unbedingt Pragmatiker sein. Sie läuft Gefahr, sich gar nicht mehr um den praktischen Wert von Erinnerungen zu kümmern, sondern nur noch nachzubeten, was andere ihr vorsagen. Mit „Grips“ hat das relativ wenig zu tun. „Grips“ kommt von greifen, hart zugreifen. Wer Grips haben und behalten will, muß fest in der Gegenwart stehen.

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