Eigentlich wollten die beiden jungen Musikproduzenten Michael Lang und Artie Kornfeld in dem kleinen Ort Woodstock im US-Bundesstaat New York 1968 ein Tonstudio einrichten und planten, zu dessen Finanzierung einige Konzerte zu veranstalten – da stießen sie auf eine Anzeige im Wall Street Journal, in der ein „junger Mann mit unbegrenztem Kapital legitime Investitionsmöglichkeiten und Geschäfts-ideen“ suchte.
Hinter dem Inserat steckten die beiden Finanzspekulatoren Joel Rosenmann und John Roberts, die eine Fernsehserie über „zwei junge Typen mit mehr Geld als Verstand“ schreiben wollten, aber keine Idee für den eigentlichen Plot der Geschichte hatten. Die vier taten sich zusammen und gründeten die Woodstock Ventures, die dann zwar weder ein Tonstudio noch eine Fernsehserie, dafür aber das bis heute legendärste Musikfestival zustande brachten.
In Woodstock – genauer gesagt, in dem 75 Kilometer entfernten Städtchen Bethel, auf das man ausweichen mußte, nachdem man in Woodstock selbst sowie in Wallkill am Widerstand der Anwohner gescheitert war – entwickelte sich alles ein paar Nummern größer: Um nicht erneut abgewiesen zu werden, sagte man dem Bauern Max Yasgur zunächst, daß man von ihm eine Wiese für nur zehn- bis fünfzehntausend Menschen pachten wolle, mußte aber bald „beichten“, daß man mit fünfzigtausend zahlenden Gästen und noch einmal genauso vielen Fans ohne Eintrittskarten rechne; Yasgur verpachtete seine Wiese trotzdem. Schließlich war rund eine Million Menschen zu dem Festival unterwegs, von denen aber „nur“ eine halbe Million tatsächlich ankam; die andere Hälfte war im völlig überlasteten Verkehr steckengeblieben.
Alles verlief entsprechend chaotisch, selbstverständlich waren Verpflegung und sanitäre Anlagen völlig unzureichend, an einen geordneten Ticketverkauf war nicht mehr zu denken, so daß man den Eintritt, um keine Tumulte zu riskieren, spontan für frei erklärte, weshalb die Veranstaltung zu einem finanziellen Mißerfolg geriet.
Auch von den Musikern wurde Improvisationstalent verlangt, was der „atmosphärischen“ Wirkung des Ganzen keinen Abbruch tat – besonders deutlich im Fall von Richie Havens, der für die verspätete Rockband Sweetwater einsprang und mit dem improvisierten Lied „Freedom“ die „Woodstock-Hymne“ lieferte.
Angesichts dieser Umstände ist es erstaunlich, daß es, zumal bei einem Publikum, das in hohem Maße Drogen konsumierte, kaum zu nennenswerten Zwischenfällen gekommen ist: Angeblich gab es zwei Drogentote, und ein Mann kam bei einem Unfall mit einem Traktor ums Leben – die Hippies zeigten sich von ihrer friedlichen Seite, wie es dem Motto der Veranstaltung „3 Days of Peace & Music“ entsprach.
Noch mehr erstaunt allerdings, warum gerade Woodstock so viele Besucher anziehen und sowohl zum identitätsstiftenden Moment einer ganzen Generation als auch zu einem zentralen Ereignis der Popkultur werden konnte. Schließlich war es nicht das erste Event seiner Art – insbesondere das Monterey Pop Festival von 1967 galt als musikalische Initialzündung der Hippiebewegung. Trotz so prominenter Teilnehmer wie Jimi Hendrix, The Who, Santana, Janis Joplin und Joe Cocker fehlten zudem die ganz großen Superstars, etwa die Beatles, die Rolling Stones, Elvis Presley, Bob Dylan oder The Doors. Wahrscheinlich ist es gerade diese Mischung von Underground und Großspektakel, die den „Mythos Woodstock“ ausmacht: Zum letzten Mal hat sich die amerikanische Hippiebewegung in ihrer jugendlichen Unschuld als Gegenkultur mit „Schlammschlacht“ (aufgrund des widrigen Wetters) und freier Liebe im Gebüsch präsentiert.
Woodstock hielt sogar in mancherlei Hinsicht die Mitte: zwischen idealistischer Gesinnung und Kommerz, „Love and Peace“ und politischer Aktion, counter-culture und Establishment – danach wurde die Popkultur endgültig zum Mainstream, und die nächste Generation grenzte sich von den älter werdenden Hippies ab und suchte etwa im Punk neue, oft aggressivere Ausdrucksformen.
Aus der Perspektive eines deutschen Nachgeborenen erscheint Woodstock hierzulande im öffentlichen Bewußtsein zu stark mit der 68er-Bewegung verknüpft. Zwar gibt es Parallelen, doch weder haben die 68er hierzulande einen eigenständigen Beitrag zur Pop-, geschweige denn zur sonstigen Kultur geleistet, noch waren die Hippies in vergleichbarer Weise ideologisch fanatisiert.
Insofern sich deren Protest gegen den Vietnamkrieg oder die Benachteiligung von Afro-Amerikanern richtete, hatte er seine Berechtigung und konnte sich auf amerikanische Werte berufen, die radikalisiert, nicht aber abgeschafft werden sollten. Ihre Sinnsuche führte die Hippies in Landkommunen, zu den Indianern oder nach Indien, das in Woodstock musikalisch durch Ravi Shankar und „spirituell“ durch Sri Swami Satchidananda präsent war. Die deutschen 68er dagegen huldigten durchweg solchen Gurus wie Marx, Lenin, Mao, Che Guevara oder Ho Chi Minh.
Es ist daher nicht ganz abwegig, die Hippiebewegung eher als – infolge des Wohlstands und der gewonnenen Weltkriege – „verspätetes“ amerikanisches Pendant zur deutschen Jugend- und Lebensreformbewegung der ersten Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts zu sehen. Diese alternativ-esoterische Ausrichtung illustriert das ursprünglich für das Woodstock-Festival entworfene Plakat: Es zeigt einen weiblichen „Wassermann“, der, umgeben von üppigen Jugendstilornamenten, das Age of Aquarius ankündigt. Erst in der wegen des „Umzugs“ nach Bethel korrigierten Version findet sich die tatsächlich verwendete Symbolik einer weißen Friedenstaube, die auf einer Gitarre sitzt.
Beide Plakate sind, neben zahlreichen unbekannten Fotos und bislang unveröffentlichten Dokumenten, in dem von Mike Evans und Paul Kingsbury herausgegebenen Band „Woodstock“ abgebildet, dessen deutsche Ausgabe soeben erschienen und nicht nur für Musikfreunde von Interesse ist.
Mike Evans: Woodstock. Mit einem Vorwort von Martin Scorsese. Collection Rolf Heyne, München 2009, gebunden, 288 Seiten, 200 Fotos, 39,90 Euro
Foto: Woodstock-Festival Mitte August 1969: Ein „verspätetes“ amerikanisches Pendant zur deutschen Jugend- und Lebensreformbewegung?