Anzeige
Anzeige

Die Illusionen der Ideologie

Die Illusionen der Ideologie

Die Illusionen der Ideologie

 

Die Illusionen der Ideologie

Anzeige

Wer nach denen fragt, die die wichtigsten Interpretationen des Schlüsseljahrs 1989 geliefert haben, wird Francis Fukuyama genannt bekommen und Samuel Huntington, der eine oder andere verweist vielleicht auf Panajotis Kondylis, aber Rolf-Peter Sieferle dürfte in der Reihe fehlen. Das zu Unrecht, denn Sieferle hat mit seinem Buch „Epochenwechsel“ (1994, 2. veränderte Auflage 1999) eine der klügsten Analysen des Geschehens geschrieben und diese außerdem mit Prognosen verbunden, deren Wert uns heute, zwanzig Jahre später, immer deutlicher vor Augen steht: von den Illusionen des Posthistoire, vom monopolaren Weltstaatensystem als einem – kurzfristigen – Durchgangsstadium der Entwicklung, den Illusionen der Menschenrechtspolitik, den Zwängen der Massenintegration und den Verwerfungen, die die Einwanderung mit sich bringen mußte.

Der Grund, warum der 1949 in Stuttgart geborene, 1977 promovierte und 1984 im Fach Neuere Geschichte habilitierte Sieferle nicht erwähnt wird, hängt mit dem Charakter dieser Vorhersagen zusammen, die alle zu den unangenehmen Wahrheiten gehörten. Für einen kurzen Augenblick konnte man nach dem Zusammenbruch des Kommunismus und angesichts der Verblüffung der Meinungseliten im Westen glauben, daß die Zeit gekommen sei, solche Wahrheiten auszusprechen.

In dieser Phase, zu Beginn der neunziger Jahre, hat Sieferle sein Buch geschrieben, als es erschien, war das Klima aber schon wieder umgeschlagen: Die alten Einflußnehmer waren auch die neuen. „Epochenwechsel“ wurde zwar in allen großen Blättern rezensiert, aber Sieferles Argumentation entweder als unerheblich oder als gefährlich eingestuft, und die FAZ ließ das Buch von einer linken Journalistin – Susanne Gaschke – in höhnischem Ton abservieren.

Die Wirkungslosigkeit seines Vorstoßes hat Sieferle dazu bewogen, einen zweiten zu unternehmen, aber einen anderen Weg einzuschlagen. Ein Jahr nach „Epochenwechsel“ erschien der Band „Die Konservative Revolution“ (1995). Wie der Untertitel „Ein Essay“ im Fall von „Epochenwechsel“ war hier der Zusatz „Skizzen“ ein Ausdruck der Bescheidenheit, von der Sache her jedoch kaum gerechtfertigt. Denn wie sich Sieferle im ersten Fall als Geschichtsdenker profiliert hatte, so zeigt er hier, daß durch den Rückgriff auf Person und Weltanschauung von Paul Lensch, Werner Sombart, Oswald Spengler, Ernst Jünger und Hans Freyer eine Neuinterpretation der Konservativen Revolution gelingen konnte, die die Grenzen von Armin Mohlers Klassiker überwand und die Gewaltsamkeiten der Deutung Stefan Breuers vermied. Da das Thema „KR“ in den neunziger Jahren für Geschichtswissenschaft und verwandte Disziplinen en vogue war, wurde Sieferles Band mit Interesse und einem gewissen Wohlwollen aufgenommen, bis ihm Rudolf Walther in der Frankfurter Rundschau eine Kolumne widmete, die mit den denkwürdigen Sätzen endete: „… die Jury, die Sieferles Buch in die Sachbuch-Bestenliste der Süddeutschen Zeitung hochlobte, sollte gelegentlich über ihre Aufgabe und Funktion ebenso nachdenken wie das Lektorat des Fischer-Verlags, wo das Machwerk erschienen ist.“

In der Süddeutschen hat man die Mahnung beherzigt, und Kurt Sontheimer ließ noch eine Rezension folgen, die den Widerwillen gegen Sieferles hermeneutischen Ansatz sowenig zu verbergen suchte wie die Absicht, in den „alten Bürgerkriegsgräben“ zu bleiben, die Sieferle endlich zu verlassen suchte. Selbstverständlich wäre es naiv, anzunehmen, daß dessen Beschäftigung mit der KR absichtslos, nur aus antiquarischem Interesse erfolgte, aber das Bemühen um ein Verstehen zielte auch nicht – wie dauernd unterstellt – auf eine Rehabilitation der Konservativen Revolution, des Nationalsozialismus oder gar der politischen Rechten insgesamt, sondern auf die Freilegung jener „Entwürfe einer alternativen Moderne“, zu denen allerdings auch die KR gehörte.

Nimmt man von hier aus die früheren Veröffentlichungen Sieferles, die sich mit dem menschlichen Verhältnis zur Natur („Die Krise der menschlichen Natur“, 1989) wie mit den Anfängen der ökologischen Bewegung („Fortschrittsfeinde?“, 1992) befaßten, in den Blick, erscheinen sie als Vorarbeiten, und die späteren wirken wie Fortsetzungen. Durchgängig ist dabei ein Vorbehalt gegenüber dem Fortschritt, der Tendenz zur Vernutzung und zur Weltbemächtigung.

Das ist auch den Bänden anzumerken, die Sieferle im Rahmen des Forschungsprojekts „Der Europäische Sonderweg“ der Stuttgarter Breuninger-Stiftung herausgegeben hat. Daß hier der Rahmen noch einmal ganz weit gespannt wurde, entsprach Sieferle universalhistorischen und geschichtsphilosophischen Interessen. Der Ton, in dem er seine Perspektiven entwickelte, war vorsichtiger als im „Epochenwechsel“, was die denkbaren Alternativen angeht, aber hinreichend deutlich angesichts der Erwartungen, die allgemein mit dem Neoliberalismus verknüpft wurden: „Am Ende eines jahrtausendealten Spannungsverhältnisses von Markt und Macht könnte … die völlige Absorption der Macht durch den Markt stehen, die Herausbildung eines postpolitischen Zustands, dessen Entwicklung sich allen Zugriffsversuchen seitens außer-ökonomischer Mächte entzieht. Allerdings gibt es dazu auch Gegentendenzen: Noch immer finden sich auch in den Industriegesellschaften nicht-marktförmige ökonomische Strukturen (…) Es kann daher mit guten Gründen bezweifelt werden, ob sich eine vollständig marktwirtschaftliche Gesellschaft je durchsetzen wird (…) Sonderlich human wäre eine solche Gesellschaft sicherlich nicht; darüber hinaus fragt es sich aber, ob sie in der Wirklichkeit (das heißt jenseits ökonomischer Modelle) überhaupt funktionstüchtig wäre.“

Obwohl die von Sieferle betreute Schriftenreihe zum „europäischen Sonderweg“ auf stattliche vierzehn Bände angewachsen ist, hat sie etwas Unabgeschlossenes. Wahrscheinlich hängt das damit zusammen, daß Sieferle 2005 die Leitung des Projekts niederlegte und einen Lehrstuhl an der Universität im schweizerischen St. Gallen annahm, wo er seither Geschichte lehrt. Der Ruf erfolgte spät, wenn auch nicht zu spät und eröffnete ihm die Möglichkeit, sich mit größerer Selbständigkeit auf seine eigentlichen Forschungsfelder zu konzentrieren. Die letzten Veröffentlichungen zur Umweltgeschichte („Rückblick auf die Natur“, 1997) sprechen genauso dafür, wie das Bändchen zur Einführung in das Denken von Karl Marx, das vor zwei Jahren erschien („Karl Marx zur Einführung“, 2007).

Wer fürchtet, daß hier eine Art Rückfall vorliegt – immerhin stammt Sieferle aus der Schule von Immanuel Geiss, wurde 1977 mit einer Arbeit über die Revolution im Denken von Marx promoviert und galt lange Zeit selbst als Linker –, wird sich nach der Lektüre rasch korrigieren. Sieferle sieht in Marx nicht oder nicht in erster Linie den Stifter einer säkularen Religion, sondern einen Analytiker des Industriezeitalters, von dem fallweise mehr zu lernen ist als von seinen Kritikern. Man sollte darin vor allem einen Ausweis unabhängigen Denkens sehen, für das Sieferle zahlreiche Proben geliefert hat.

Das gilt auch für seinen jüngst in der Zeitschrift Gaia erschienenen Aufsatz über den Untergang des römischen Imperiums. Was er hier herausarbeitet, ist das oft schwer trennbare Nebeneinander von „Anpassung“ und „Ruin“. „Anpassung“ betrachtet er grundsätzlich als Hinweis auf die Lebenstüchtigkeit einer Kultur, auch wenn sie deren Charakter weitgehend verändert, den „Ruin“ als faktisches Ende einer morphologischen Einheit mit hinreichend klar bestimmbarer Identität. Der modischen Vorstellung vom Kollaps Roms als einem „Übergang“ widerspreche die Wucht des Barbareneinfalls, das tatsächliche Verschwinden der staatlichen und rechtlichen Ordnung, der religiösen Vorstellungen, der zivilisatorischen Standards und sogar des sie tragenden Typus. Allerdings müsse man sich bei Feststellung des Ruins davor hüten, der Faszination der „großen Parallele“ zu erliegen und dabei zu übersehen, welche Wandlungsfähigkeit gerade Hochkulturen eigen sei.

Was hier angedeutet ist, könnte für Sieferle vielleicht noch einmal Anstoß sein, das Generalthema aufzunehmen, das er in „Epochenwechsel“ formuliert hat. Am Mittwoch dieser Woche hat er seinen sechzigsten Geburtstag begangen, – kein Alter für einen produktiven Kopf, der gewohnt ist, in langen Zeiträumen zu denken.

Foto: Berlin 1989, Fall der Mauer: Eine der klügsten, jedoch zu wenig beachteten Analysen dieses Epochenwechsels stammt von dem heute in der Schweiz lehrenden Historiker Rolf-Peter Sieferle

Anzeige
Anzeige

Der nächste Beitrag

ähnliche Themen
Hierfür wurden keine ähnlichen Themen gefunden.