Regierungschefin Angela Merkel hat den „Waffenstillstandstag“, den 11. November, in Paris verbracht. Dort gab es wie jedes Jahr Erinnerungsfeiern und Totengedenken, um die Gefallenen des Ersten Weltkriegs zu ehren. Die Aufmerksamkeit, die dieser Tag in Frankreich, in Belgien oder Italien findet, ist aber kaum mit der in Großbritannien zu vergleichen. Das Trauma des „Great War“ – des „Großen Krieges“, wie man dort den Ersten, nicht den Zweiten Weltkrieg nennt –, mag allmählich abklingen, hat aber doch im kollektiven Gedächtnis unauslöschliche Spuren hinterlassen.
Seit dem 11. November 1919, dem ersten Jahrestag des Waffenstillstands, begeht man in Großbritannien und den ehemaligen Ländern seines Imperiums – vor allem den weißen Siedlerkolonien Kanada, Australien, Neuseeland und Südafrika – den Remembrance oder Armistice Day, und bis heute ist es üblich, aus diesem Anlaß am Revers eine rote Mohnblume zu tragen, meistens aus Papier oder Kunststoff, und Kränze aus rotem Mohn werden an den Denkmälern oder den Gräbern der Gefallenen niedergelegt.
Der Ursprung dieser Symbolik ist poetisch im Wortsinn. Denn das Motiv des roten Mohns geht zurück auf ein Gedicht mit dem Titel „In Flanders Fields“ („Auf Flanderns Feldern“), das der kanadische Militärarzt John McCrae im Mai 1915, während der harten Kämpfe um die belgische Stadt Ypern geschrieben hat. Es dürfte noch immer zur bekanntesten Literatur aus dem Ersten Weltkrieg in der englischsprechenden Welt gehören, und die erste Strophe beginnt mit dem Satz: „In Flanders fields the poppies blow“.
In deutscher Übersetzung lautet das Gedicht: „Auf Flanderns Feldern blüht der Mohn/ Zwischen den Kreuzen, Reih’ um Reih’,/ Die unseren Platz markieren; und am Himmel/ Fliegen die Lerchen noch immer tapfer singend/ Unten zwischen den Kanonen kaum gehört.//
Wir sind die Toten. Vor wen’gen Tagen noch/ Lebten wir, fühlten den Morgen nahen/ und sahen den leuchtenden Sonnenuntergang,/ Liebten und wurden geliebt, und nun liegen wir/ Auf Flanderns Feldern.//
Nehmt auf uns’ren Streit mit dem Feind:/ Von versagenden Händen werfen wir Euch zu/ Die Fackel, die Eure sei, sie hoch zu halten./ Brecht Ihr den Bund mit uns, die wir sterben,/ So werden wir nicht schlafen, obgleich Mohn wächst/ Auf Flanderns Feldern.“
McCrae assoziierte die Farbe der Mohnblumen sicher mit dem Blut und gab im Grunde einer Idee des Opfertodes Ausdruck. Er selbst starb kurz vor Kriegsende, aber sein Gedicht überlebte ihn und wurde außerordentlich populär. Das gilt bis heute für seine kanadische Heimat, wo der Text zum Unterrichtsstoff der Schulen gehört und ein Passus auf der Rückseite der Zehn-Dollar-Note abgedruckt wurde.
Inspiriert vom Bild des Mohns soll eine junge Amerikanerin, Moina Michael, schon während des Krieges beschlossen haben, zur Erinnerung an die Gefallenen immer eine Blüte im Knopfloch zu tragen. Der US-Veteranenorganisation American Legion schlug sie dann vor, diese Praxis zu übernehmen, und fertigte künstliche Mohnblumen aus Seide an. Die Idee fand in Nordamerika und dann in Frankreich Anhänger und kam erst 1921 auf einem Umweg nach Großbritannien.
Der Remembrance Day wurde da schon seit zwei Jahren begangen. Am 7. November 1919 hatte Georg V. ihn zum Feiertag erklärt, und nach und nach verknüpfte er sich mit dem Symbol der Mohnblume. Heute ist das eine vom anderen nicht mehr zu trennen, so daß der „Gedenk-“ oder „Waffenstillstands-Tag“ im Volksmund oft Poppy Day (Mohnblumen-Tag) genannt wird.
In der Woche zuvor hat die Königin das Field of Remembrance geöffnet, eine Rasenfläche nördlich der Westminster-Abtei, auf der jeder, der ein besonderes Anliegen mit dem Gedenken an einen toten Soldaten verbindet, ein kleines weißes Holzkreuz samt Inschrift und roter Mohnblume aufstellen darf. Vor allem die Familien von Gefallenen tun das, um ihrer Trauer wie ihrem Respekt Ausdruck zu geben.
Am 11. November schweigen dann um 11 Uhr für zwei Minuten Verkehr und Arbeit, und viele Briten tragen zur Erinnerung an die Toten und als Ausdruck der Solidarität mit den Kriegsversehrten eine Mohnblume. Ganz verschwindet das Symbol auch in der übrigen Zeit des Jahres nicht. Das Grab des Unbekannten Soldaten in der Westminster-Abtei umgibt immer ein Rahmen mit Mohnblumen, und am 11. November bedecken ihn Besucher über und über mit Poppies.
Die JF-Serie „Politische Zeichenlehre“ des Historikers Karlheinz Weißmann wird in zwei Wochen fortgesetzt.
Foto: Soldatengedenken auf dem Field of Remembrance nördlich der Westminster-Abtei: Opfertod-Symbolik