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ESN-Fraktion, Europa der souveränen Nationen

Einspruch gegen das Uneigentliche

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Einspruch gegen das Uneigentliche

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Unwort, Umfrage, Alternativ

Sagt der Engländer „the lied“ und sagt der Franzose „le lied“, so meinen beide ein und dasselbe, nämlich das deutsche Kunstlied, insbesondere seit Franz Schubert, das der abendländischen Kultur tiefe Spuren eingezeichnet hat. Einige Kunstlieder, wie Schuberts „Lindenbaum“, sind Volkslieder geworden, einige Volkslieder haben in Bearbeitungen der Meister als Kunstlieder überdauert und wieder Eingang in die Volkskultur gefunden. Als der Pianist und Liedbegleiter Michael Raucheisen im Jahr 1933 sein ehrgeiziges Projekt „Lied der Welt“ begann, eine umfassende Dokumentation des deutschsprachigen Kunstlieds auf Schallplatte, da konnte er nicht ahnen, daß er eine Kunst und eine Gesangskultur aufheben sollte, die beide nach 1945 unwiederbringlich verlorengingen. Raucheisen hatte die Möglichkeiten des neuen Mediums Rundfunk früh erkannt und begann dessen technische Mittel konsequent zu nutzen, insbesondere das von AEG und BASF entwickelte neue Magnetophon-Verfahren, welches die Tonaufzeichnung auf Wachsscheiben ablöste. Seit 1940, nach anderer Quelle seit 1942, Abteilungsleiter für Lied und Kammermusik beim Reichssender Berlin, fand er im Haus in der Berliner Masurenallee ideale Aufnahmebedingungen bis zuletzt, als Philharmonie, Theater, Opernhäuser und die Studios der Plattenfirmen längst in Schutt und Asche lagen. Es scheint mit seiner politischen Funktion zusammenzuhängen, daß Raucheisen im Nachkriegsdeutschland sein Projekt bis auf wenige Aufnahmesitzungen nicht fortsetzen konnte; es fiel dem Vergessen anheim, wurde wohl auch verdrängt, läßt es sich doch schwerlich als überzeugender Beleg für die behauptete Kulturbarbarei der Nationalsozialisten heranziehen. Nach einigen Jahren Berufsverbot trat Raucheisen auch später nur selten öffentlich auf. 1958 zog er sich in das Privatleben zurück und übersiedelte mit seiner Frau, der Sängerin Maria Ivogün, in die Schweiz. Raucheisen starb am 27. Mai 1984. Er liegt auf dem Städtischen Friedhof seiner Geburtsstadt Rain begraben, seine 1987 gestorbene Frau bei ihm. Schuberts „Winterreise“ inmitten des Untergangs Nachdem immer wieder einmal Teile des Raucheisen-Projekts, unter verschiedenen Aspekten zusammengestellt, auf Schallplatte und CD veröffentlicht wurden, hat die Hamburger Firma Membran International weit über tausend (!) Liedaufnahmen auf 66 CDs bzw. einer CD im MP3-Format unter dem einzig angemessenen Aspekt „Michael Raucheisen. Der Mann am Klavier“ ediert (Documents/Membran 223067 bzw. 231185). Sie bezeugen nicht nur den hohen Stand der Aufnahmetechnik und damit der technischen Leistungsfähigkeit des Großdeutschen Rundfunks, sondern auch das schier überwältigende sängerische Potential, über welches im deutschen Musikleben — der vierziger Jahre zumal — immer noch verfügt werden konnte. Raucheisen rief, und alle kamen — fast alle. Ungerufen blieben jüdische Künstler, die mit Auftrittsverbot belegt oder emigriert waren und in der Emigration ihre Weltkarriere begannen oder fortsetzten. Oder verstummten. Auf der Liste der Gerufenen aber fehlt — es sei denn, man war mit Raucheisen überkreuz oder arbeitete mit anderem Begleiter — kaum einer der damaligen Sängerelite. Ihr Singen mit all seinen Arten und Unarten spiegelt eine bedeutsame Wende im Verständnis von Liedgesang, die singuläre Vermittlungsleistungen wie die eines Dietrich Fischer-Dieskau seit den fünfziger Jahren vorbereiten half, aber auch ein Unternehmen wie die Schubert-Edition des britischen Labels Hyperion, das Graham Johnson in den späten achtziger und neunziger Jahren initiiert und begleitet hat. Während, von Raucheisen accompagniert, einige alte Opernkämpen herum­orgeln, was das Zeug hält, damit ein jeder ja auch höre, wie den Schmied auf Helgoland angesichts seines nächtlichen Kunden Odin Angst und Graus fassen, oder ein Strophenlied zum großen Auftritt aufmöbeln, so daß wir uns gar nicht sicher sind, ob es am Ende nicht vielleicht gar Ödipussis Mutter Winkelmann ist, die uns da, juchhe, ein ums andere Mal versichert, wie doch die Erde so schön, so schön sei, gibt es schon ganz andere, innerliche Töne zu hören, welche die alten Weisen neu in uns erstehen lassen. Das Lied ist nach Friedrich Dieckmann „eine Gattung, die sich in der intim-geselligen Sphäre eines politisch aufgeschlossenen, zugleich maßgebenden Bürgertums entfaltete“. Es fordert den Menschen, den bürgerlichen Menschen im singenden Künstler, der die Welthaltigkeit des Liedes mit Welthaltung zu vermitteln weiß. Wenn nun Raucheisen dem deutschen Lied in einer Zeit zur Renaissance zu verhelfen suchte, in der mit allen anderen sozialen Klassen auch das Bürgertum dabei war, in einem „planetarischen Kleinbürgertum“ — mit Giorgio Agamben „die Gestalt, in der die Menschheit ihrer Vernichtung entgegengeht“ — aufzugehen, dann ist das durchaus als ein Akt des Einspruchs, wenn nicht gar des Widerstands gegen das Uneigentliche und Unauthentische zu sehen oder vielmehr: zu hören. Im Lied erhält der Künstler seine Identität und gibt sie preis. Der Bürger zahlt, der Künstler singt Ganz andere, innerliche Töne werden wohl bei keinem der in der Edition vertretenen Sänger so fühlbar wie bei dem lyrischen Tenor Peter Anders, der zwischen 1942 und 1945 über 100 Lieder mit Raucheisen aufgenommen hat. Es liegt ein Abgrund zwischen der auftrumpfenden Gebärde, die Anders für die Lieder von Richard Strauss 1943/44 bereithält, oder der prahlerisch juvenilen für Beethovens „Adelaide“ von 1942 und dem waidwunden Ton, den Anders und Raucheisen im Januar und März 1945 für Schuberts „Winterreise“ anschlagen, inmitten des Untergangs. Zu so unerbittlicher Selbstbefragung des Wanderers, der sich selbst den Weg in dieser Dunkelheit weisen muß, hat der Tenor des Wirtschaftswunders nie mehr zurückfinden können. Die Aufnahme mit Peter Anders von 1945 ist allgemein bekannt und zugänglich, und dennoch, so steht zu behaupten, wird ihre ganze Bedeutung nur ermessen können, wer ihre Stellung innerhalb der Raucheisen-Edition bedenkt. Auf sie läuft alles hinaus und von ihr geht aller Anfang aus. Die Schattenseiten bürgerlicher Existenz hat Schubert seinen Liedern weit über ein Jahrhundert zuvor eingeschrieben, deren Lichtseiten die anderen, die „Kleinmeister“ Carl Loewe oder Peter Cornelius oder Otto Nicolai unermüdlich polierten. Von dem Bedürfnis nach dem Lied, zu singen in trautem Kreis, an der Liedertafel oder im Gesangsverein, zeugen zahlreiche Volksliedbearbeitungen, Lieder aus Stücken und Mehrfachvertonungen, die in die Raucheisen-Edition Aufnahme fanden. Die Zeitspanne aber, in welcher der Citoyen im Bourgeois aufging, wurde zur entscheidenden für Blüte und Verfall des deutschen Kunstlieds. Konkurrenzsubjekte haben keine Lieder oder allerhöchstens solche von Leo Blech, Richard Trunk oder Hermann Zilcher. Mit Liedern, in denen die moderne kollektive Psyche in all ihren Facetten Gestalt annimmt, läßt sich beim besten Willen und ohne ausreichende stimmtechnische Schulung keine intim-gesellige Sphäre herzaubern. Das deutsche Kunstlied findet aus Heim, Salon und Wirtshaus in den öffentlichen Konzertsaal. Der Bürger zahlt, der Künstler singt. Seine Kunst kommt nicht länger mehr von Wollen und Können, sondern von Können und Müssen. Der Liederabend, der einem ausgefeilten dramaturgischen Konzept folgt, ist wie der auf Liedinterpretation spezialisierte Sänger eine Erfindung des 20. Jahrhunderts. Und folglich auch der Liedbegleiter. Über Michael Raucheisens Berühmtheit kursierte 1927 in Berliner Künstlerkreisen ein Scherz, den die Sängerin Frida Leider in ihren Memoiren überliefert hat: „Liederabend MICHAEL RAUCHEISEN. Am Sopran: Sängerin X.“ Raucheisen versuchte, sich restlos in die Intentionen des Sängers einzufühlen, die Klavierstimme der Sängerstimme anzupassen. Fast vermeint der Hörer bei einigen der Lieder, die Raucheisen mehrfach, jeweils mit anderen Sängern, aufgenommen hat, jeweils auch einen anderen Begleiter zu hören. Und doch war Raucheisen als Begleiter immer Interpret, der das Unbewußte, das in der Begleitstimme steht, ins Bewußtsein des Sängers und des Hörers hob. Als Flügelmann gab der Mann am Flügel die Richtung vor! In den besten Aufnahmen der Edition potenzieren sich Ausdrucksvermögen von Sänger und Begleiter, so daß sich schwerlich noch unterscheiden läßt, was aus den Noten herausgelesen, was in die Noten eingebracht wurde. Interpretation wird zur Schöpfung des Werks im Moment seines Erklingens. Es ist bisher — von dem wohlfeilen Hinweis auf die Entwicklung der Aufzeichnungssysteme einmal abgesehen — nicht hinreichend begründet worden, warum Ende des deutschen Kunstlieds und Anfang der modernen Liedinterpretation in die Zeit des Dritten Reichs fallen, angestoßen und zu frühem Gipfel geführt von einem wohl überzeugten Nationalsozialisten. Aus politischen Gründen hatte Raucheisen die Lieder von Mendelssohn-Bartholdy und selbstverständlich die Lieder nach Gedichten Heinrich Heines aus Schuberts „Schwanengesang“ und Schumanns „Dichterliebe“ ganz ausgelassen, allerdings in Nachkriegssitzungen die Lücken zu schließen unternommen. Ob die Aufnahme des „Fischermädchens“ aus dem Jahr 1943 mit Peter Anders unterlaufen ist oder gezielt eingeschmuggelt wurde, ob die Zensur sie übersehen oder durchgehen lassen hat, ist bisher ungeklärt geblieben. Der Ausgabe mangelt es an editorischer Sorgfalt Aber auch hinsichtlich der archivierten Aufnahmen kann die Raucheisen-Edition bei Membran keinen Anspruch auf Vollständigkeit und editorische Sorgfalt erheben. Sie scheint in wesentlichen Teilen auf der vor Jahren bei Acanta auf Schallplatten erschienenen Lied-Edition zu basieren, die bei der Umstellung des Marktes auf CD auf der Strecke geblieben war. Die Acanta-Edition enthielt auch Liedaufnahmen mit anderen Begleitern wie Hubert Giesen und Clemens Krauss, deren Klavierparts nun Raucheisen untergeschoben sind. Die Beilagen bieten nur rudimentäre Hilfe und enthalten zudem einige ungenaue Datierungen und Irrtümer. Eine Gesamtübersicht fehlte völlig, gäbe es nicht das Weltnetz und die Enthusiasten, die sich nicht nur der editorischen und Korrekturarbeit unterziehen, die man bei Membran International sich sparen zu dürfen vermeinte, sondern die sie auch anderen Nutzern zur Verfügung stellen, beispielsweise Caroline und Johannes Saltzwedel aus Hamburg auf ihrer Seite www.venturus.de ein Gesamtinhaltsverzeichnis mit Spielzeiten, ergänzt durch fünf Register, geordnet nach Komponisten und Opuszahlen, Dichtern und Texttiteln, Textanfängen, Sängern und Aufnahmedaten sowie Aufnahmedaten allein. So bleibt der Wanderer durch das Liederchaos der Edition nicht ganz auf sich allein verwiesen, will er sich seine eigenen Liedprogramme, seine tausend kleinen Plateaus, zusammenzufügen: nach Komponisten, nach Textdichtern, Sängern, Themen. Der Mann am Klavier, Michael Raucheisen, ist immer dabei. Foto: Michael Raucheisen (1889—1984): Interpretation wird zur Schöpfung im Moment des Erklingens

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