Der Spiegel zählt noch immer zu den wichtigsten deutschen Leitmedien. Gerade haben seine beiden Chefredakteure verkündet, sie wollten das „Unternehmen Aufklärung“ weiterbetreiben. Das müßte dann eine Aufklärung sein, die ihren dialektischen Umschlag thematisiert und nachvollzieht, wie ihr ursprünglicher emanzipatorischer Anspruch dem Individuum als Entfremdungszwang gegenübertritt. Will der Spiegel als politisch-mediale Institutionalisierung dieses Zwangs gegen sich selbst rebellieren? In kurzer Folge (in den Nummern 42, 46 und 49) wurden drei Aufklärerinnen engagiert: die Krimiautorin, Fernsehmoderatorin und studierte Philosophin Thea Dorn (38), deren bisher wichtigste Leistung darin besteht, Eva Hermans „Eva-“ als „Eva-Braun-Prinzip“ enttarnt und die Autorin für ein Berufsverbot empfohlen zu haben („Ein öffentlich-rechtlicher Sender wie der NDR sollte sich jedoch ernsthafte Sorgen machen, wenn eins seiner prominentesten Gesichter damit beginnt, solche Haßtiraden gegen den neuzeitlichen Individualismus anzustimmen …“). Zweitens die Publizistin und Buchautorin Cora Stephan (57), eine linke Kritikerin des rot-grünen Juste milieu, die 1993 mit dem Buch „Betroffenheitskult“ eine scharfsinnige politische Sittengeschichte der Bundesrepublik vorgelegt hatte. Zuletzt die frühere Regierungssprecherin des damaligen NRW-Ministerpräsidenten Wolfgang Clement und heutige Medienwissenschaftlerin an der Universität St. Gallen, Miriam Meckel (41), als Lebenspartnerin der Talkshow-Moderatorin Anne Will inzwischen auch Bild-Lesern bekannt. Dorn treibt die Frage um, warum in Deutschland kein Intellektueller von öffentlicher Relevanz jünger ist als 60 Jahre. Mangel an Lebenserfahrung allein könne es nicht sein. Sie spricht von einer Immunisierung ihrer Generation gegenüber der Wirklichkeit. Diese Generation lasse „sich von nichts erschüttern“, sogar der Terrorismus sei nur Anlaß, einer verborgenen Textstruktur nachzuspüren. Schuld sei ein „Lyotard-Baudrillard-Derridascher“ Verblendungszusammenhang. Dorn weiter: „Die Postmoderne hat in der Geisteshaltung der jüngeren Intellektuellen größere Verwüstungen angerichtet als der Orkan Kyrill im Hochsauerland. Denn wie soll ich auf Ereignisse empathisch reagieren, wenn ich mir von den Dekonstruktivisten habe einflüstern lassen, daß alles nur Bild, Oberfläche, Text sei? Wie soll ich mit Verve eine Position verteidigen, wenn ich mir von den Poststrukturalisten habe weismachen lassen, daß es nicht um Wahrheit gehe, sondern lediglich darum, die Sprecherposition einzunehmen?“ Aber hat Jean Baudrillard nach dem 11. September 2001 nicht den Terror als ein reales und zugleich symbolisches Ereignis beschrieben, das einen „Realitätsexzeß“ provoziert und das simulative System unter dem Exzeß zusammenbrechen läßt? Sobald dem Inhaber der „Sprecherposition“ ein Bein abgerissen und sein Schmerz real ist, wird seine Position sich ohnehin als Pose erweisen. Trotz der Dürftigkeit des Textes nimmt Cora Stephan ihn als Beleg dafür, daß „ausgerechnet jüngere Frauen wie Thea Dorn“ fähig seien, „in manchen Fragen mal über den Tellerrand linker Gepflogenheiten und friedlicher Gesittung zu schauen — nämlich unerschrocken in die Welt mit all ihren unbequemen Ambivalenzen. Sind Frauen weniger opportunistisch? Weniger ängstlich?“ Wir werden sehen. Für Stephan ist klar, daß „das Moralisieren (…) unsere Debattenkultur“ zerstört und der öffentliche Meinungsstreit nur eine Karikatur seiner selbst ist. Ihre lapidare Erklärung für den Mißstand: Wer ohne Rücksicht auf Tabus zu streiten wagt, zerstört seine Karriere. „Und insofern ist es kein großes Rätsel, warum auch die deutschen Intellektuellen lieber schweigen, jedenfalls, sofern sie unter sechzig sind — und warum man in Schicksalsfragen aller Art vor allem den dröhnenden Baß der allzuständigen üblichen Verdächtigen hört, jener alten Männer, hinter denen die ganze Wucht einschneidender Lebenserfahrungen steht. Sie haben nichts mehr zu verlieren.“ Noch-Nicht-Rentner aber, so Cora Stephan, die gegen „die Vertreter der Political Correctness, das Ausland oder den Islam“ antreten, könnten leicht „zur Strecke gebracht“ werden. Es ist also die omnipräsente Angst vor sozialer und gesellschaftlicher Vernichtung, die Opportunismus und Langeweile erzwingt. Miriam Meckel schließlich sieht das öffentliche Leben von „Diederich Heßlingen“ — eine Anspielung auf Heinrich Manns „Untertan“ — durchsetzt, die nichts lieber täten, als der Verantwortung zu entfliehen und sich einer „herrschenden Meinung“ zu unterwerfen. Die Demokratie habe zur Etablierung einer „Oligarchie“ geführt. Zu ihr gehöre auch eine „politische Elite, welche glaubt, man könne auf die großen Diskurse unserer Zeit verzichten und stattdessen Stellvertreterkriege führen“. Es gelte, „die Ambivalenz“ samt „Vordenker, Vorredner, Vorprojizierer“ wieder zu ertragen. Tiefes Unbehagen, wenn nicht Ekel an den deutschen Zuständen drückt sich hier aus, doch es bleibt bei folgenloser Verbalradikalität. Vor allem Dorn und Meckel fehlt es am historischen, zeitgeschichtlichen und politischen Verständnis. Roß und Reiter werden nicht benannt. Ein Spiegel-Unternehmen halt. So kann das mit der Aufklärung nichts werden. Anderswo war man vor fünfzehn Jahren bereits viel weiter. Am 18. Dezember 1993, in der kurzen Phase, als die Tageszeitung Die Welt etwas taugte, erschien dort der Aufsatz „Wenn Herrschaftsfreie herrschen“ des Historikers Rainer Zitelmann, in dem es hieß: „Ein unerträglicher Konformismus herrscht heute in weiten Teilen der Republik, insbesondere dort, wo kritische Geister besonders einflußreich sind, also an geistes- und sozialwissenschaftlichen Fachbereichen, der Universitäten, der Medien und Gewerkschaften.“ Drei Tabubereiche wurden benannt: der Feminismus, die Ausländer, der Nationalsozialismus. Es wären hinzuzufügen: die Wucherungen des Sozialstaats, der sich weniger um die wirklich Bedürftigen als um den Erhalt und die Reproduktion struktureller Asozialität sorgt, und die globalen Machtverhältnisse, die hinter dem asozialen Finanzsystem stehen. Zu den verrotteten Institutionen zählen auch die Parteien, ihre Stiftungen, weite Teile der Kirchen und die Medien. In der von Dorn zu Recht monierten Flucht in Sprachspiele drückt sich der Altersschwachsinn dekadenter Kulturen aus. Schon Thomas Manns „Zauberberg“ und Hermann Hesses „Glasperlenspiel“ enthalten Beschreibungen infantiler Spaßgesellschaften ohne geschichtliches Bewußtsein. Der Autor des Klassikers „Wir amüsieren uns zu Tode“, Neil Postman, ist Amerikaner. Es handelt sich also um ein internationales Phänomen. Doch der deutsche Empathiemangel mit der eigenen geschichtlichen Lage ist beispiellos. Er muß noch andere, spezifische Gründe haben. Der wichtigste ist die bewußt herbeigeführte Verkürzung des geschichtlichen Horizonts, die sowohl die Vergangenheit wie die Zukunft betrifft. Das führt zu dem Gefühl, in einer ausweglosen, vom Dritten Reich bestimmten, ewigen Gegenwart zu leben. Die Moralisierung des Politischen ist die gesteigerte Form kulturellen Altersschwachsinns. Davon ist bei Thea Dorn und Miriam Meckel gar nicht, bei Cora Stephan nur in Andeutungen die Rede. Spiegel-Leser wissen also keineswegs stets mehr. Spiegel-Schreiberinnen übrigens auch nicht. Karikatur „Die gute Presse“, erschienen in der Zeitschrift „Leuchtturm“ (Lithographie von unbekannter Hand, 1847): Der Krebs und der Spiegel in der Fahne stehen für Rückschritt und Rückwärtsgewandtheit, der Maulwurf für Blindheit, die Kinder für den bevormundeten Bürger