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In tausend Jahren gewachsen

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Was bedeutet der Begriff „Erfindung“? Folgt man dem Duden, dann soviel wie Anwendung von gegebenen Prinzipien, etwa Naturgesetzen, in bisher nicht bekannter Konstellation zur Lösung eines bestimmten Problems. Man kann Dampfmaschinen erfinden oder Stoppersocken, den Reißverschluß oder Bezahlfernsehen. Aber kann man ein Volk „erfinden“? Der Spiegel meint, man kann, und hat eine Serie begonnen, die unter der Überschrift „Die Erfindung der Deutschen“ steht. Der Autor Klaus Wiegrefe weiß natürlich, daß die Formulierung ungewöhnlich ist, aber er hat seine Referenzen: „Wissenschaftler“, so erfährt man, sprächen mittlerweile von der „Erfindung der Deutschen“. Namen werden keine genannt, es würde wohl auch schwerfallen, welche zu finden. Vielleicht ist Benedict Anderson gemeint, der vor Jahren ein wenig originelles Buch mit dem Titel „Die Erfindung der Nation“ geschrieben hat, und der bezog sich wieder auf Eric Hobsbawm und seine Schule, die die „Erfindung der Tradition“ und ähnliches entdeckt (erfunden?) hatten, aber auch diese Mode hat ihre beste Zeit hinter sich. Liegt also die Vermutung nahe, Wiegrefe habe sich vor allem von der traditionellen Anschauung absetzen wollen, etwa der, daß Nationen objektive Größen sind, organische Einheiten, denen Normalität zukommt. Nationen sollen als Produkte von Willkürakten erscheinen, zufälliges Ergebnis eines blinden Prozesses, wahllos zusammengefügt und deshalb auch wahllos ergänzbar. Das, folgt man Wiegrefe, verbindet die Anfänge der deutschen Geschichte und die Gegenwart: „Wer hier lebt, in denselben Grenzen, regiert von derselben Staatsgewalt, der gehört auch dazu.“ Heute: die Autochthonen und die Zuwanderer, damals: die Stämme der Franken, Sachsen und Alemannen. Die übliche Betrachtung der deutschen Geschichte wird damit vollständig verkehrt. Wenn die politische Institution den Ausschlag gab und nicht die sprachliche, kulturelle, ethnische Einheit, dann ist jede Deutung, die diese Aspekte in den Vordergrund rückt, per se irreführend oder verdächtig. Es ist insofern mehr als ein Kunstgriff, wenn die Darstellung des Spiegels mit der Schlacht von Fontenoy beginnt, in der die Enkel Karls des Großen aufeinandertrafen und um ihr Erbe kämpften. Keine Rolle spielen dagegen die nach dem Friedensschluß abgelegten Straßburger Eide, in denen sich die aus dem Karolingerreich neugebildeten ost- und westfränkischen Staaten auch als sprachlich-kulturell verschiedene politische Gebilde zeigten. Was weiter folgt, ist nie ganz falsch, aber doch so tendenziös, daß von einer gerechten Darstellung keine Rede sein kann. Immer geht es darum, die Kontingenz der Bewegung vor Augen zu stellen und nachzuweisen, daß die Nation bestenfalls eine Utopie von – häufig genug: chauvinistischen – Intellektuellen war. Die großen vergleichenden Untersuchungen zu den mittelalterlichen nationes hat der Verfasser jedenfalls nicht zur Kenntnis genommen. Das hätte auch die pädagogische Absicht gestört, denn selbstverständlich geht es Wiegrefe nicht um eine wissenschaftliche, sondern um eine Darstellung mit erzieherischer Intention. Wer über die letzten Jahrzehnte Gelegenheit hatte, die größeren Ausführungen des Spiegels zur deutschen Geschichte zu lesen, der kann durchaus so etwas wie eine rote Linie feststellen. Nachdem Rudolf Augstein dem Wiedervereinigungsnationalismus der Frühzeit abgeschworen und sich zur friedensfördernden Wirkung der Teilung bekehrt hatte, war die von seinem Magazin favorisierte Haltung zur deutschen Geschichte eine von Mahnung und Ironie geprägte. Einerseits pflegte man das Pathos des „Nie wieder!“ und äußerte regelmäßig Bedenken gegen die Fortwirkung unseliger Traditionen, andererseits erschien die Geschichte der Deutschen vor allem als Anlaß zu Spöttereien. Bessere Einsichten, letztens im Zusammenhang mit der Serie über den zweiten Dreißigjährigen Krieg zwischen 1914 und 1945, hatten jedenfalls keine bleibende Wirkung. Was die Darstellung der Zeitgeschichte angeht, ist der Spiegel weit hinter das zurückgefallen, was er seit den sechziger Jahren geboten hatte. Angesichts des Einflusses, den das Magazin auf die öffentliche Meinung nimmt, kann es nicht ausbleiben, daß sein Geschichtsbild in der Intelligenz und der Menge der Halbgebildeten erhebliche Verbreitung findet. Man könnte das mit einem resignierten Achselzucken übergehen, wenn nicht der neue Vorstoß im Zusammenhang mit einem Projekt gesehen werden müßte, das auch von anderer Seite vorangetrieben wird. Kurz vor dem Spiegel hat die Illustrierte Stern mit ähnlichem Aufwand eine Serie zur deutschen Geschichte begonnen. Das Niveau ist noch deutlich niedriger. Wichtiger jedoch scheint die Parallelität der Vorstöße. Offenbar gewinnt die Auffassung Anhänger, daß das Gemeinwesen einer Integrations­ideologie bedarf. Erste Vorstöße waren schon in der Ära Schröder festzustellen mit dem Versuch, positive Bezugspunkte in der Nachkriegsgeschichte – Wiederaufbau, „Wunder von Bern“, ’68 – zu gewinnen, aber das Konzept blieb unzureichend und undurchdacht. Wahrscheinlich haben die Erfahrungen mit dem friedlich-freundlichen Partyotismus des vergangenen Sommers die Vorstellung bestärkt, es sei an der Zeit, den Deutschen ein Nationalgefühl zuzugestehen. Selbstverständlich muß das modern und weltoffen sein, multikulturell grundiert, optimistisch und zukunftsfähig. Der Konsens, der das trägt, ist ziemlich breit und umfaßt die ganze „neue Mitte“. Bedroht erscheint er nur durch jene Positionen, die seit geraumer Zeit als „revisionistisch“ angefeindet werden, weil sie entweder ein ganz anderes Verständnis von Nation haben oder häretische Vorstellungen von den Ursachen und Wirkungen in der deutschen Geschichte. Der Grad der Feindseligkeit erklärt sich aus dem Wissen, daß die Konstruktion des neuen Deutschland nur gelingen kann, wenn man alle Erinnerungen tilgt, die dem gewünschten Bild der Vergangenheit entgegenstehen, und verhindert, daß irgend jemand den Deutschen eine andere als die offiziell erwünschte Fassung ihrer Geschichte erzählt. Im Kern geht es um diese große Erzählung, und wer sich durchsetzt, der wird darüber entscheiden, was deutsche Identität zukünftig bedeutet: ein Patchwork aus beliebigen Elementen oder das Ergebnis einer langen Tradition, die über mehr als tausend Jahre zurückreicht und ein europäisches Volk unverwechselbar geprägt hat. Foto: Caspar David Friedrich, Grabmal alter Helden (Grab des Arminius), Ausschnitt, 1812 : „Deutschlands Einigkeit, meine Stärke“

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