Der unternehmerische Mittelstand ist das Rückgrat der deutschen Wirtschaft. Er ist Hauptarbeitgeber und auch Hauptsteuerzahler. Manches wäre in den fünf heute ostdeutschen Bundesländern wirtschaftlich, rechtlich und moralisch besser gelaufen, hätte die Bundesregierung diese Unternehmerfamilien seit 1990 an der Rückkehr in ihre Heimat, aus der sie 1945 von den Kommunisten vertrieben worden waren, nicht massiv gehindert. Was sie dort geleistet hätten, haben schon die wenigen bewiesen, denen die Rückkehr trotz größter – auch heimtückischer – Widerstände der Politiker, der SED-durchsetzten Treuhandgesellschaft, ihrer Nachfolgegesellschaften, der sonstigen Behörden und der Gerichte gelungen ist. Und sie beweisen dort noch, was rein private Initiative zum wirtschaftlichen Wiederaufbau eines von der Politik ruinierten Landes und zur dringend benötigten Beschäftigung beitragen kann. Einer der Autoren des von Margarete von Schnehen betreuten Buches, Hermann Koebe, erinnert an solche Leistungen, von denen einst auch das westliche Deutschland bei seinem Wiederaufbau nach dem Zweiten Weltkrieg profitiert hat: „Es ist viel zu wenig bekannt, welchen großen Anteil die vielen vertriebenen Ost-Unternehmer am wirtschaftlichen Aufbau Westdeutschlands hatten.“ Den hätten sie auch beim Wiederaufbau dessen haben können, was der DDR-Sozialismus 1990 zerstört oder heruntergekommen hinterlassen hat. Das bekräftigt auch Udo Madaus, ein anderer Autor. In der Tat waren viele Familien nach der Wiedervereinigung rückkehrbereit, doch der nunmehr gesamtdeutsche Staat hat sie in unverantwortlicher Weise daran gehindert (Madaus: „ein unverzeihlicher Fehler“). Nur wenige haben es geschafft, indem sie ihr Eigentum nochmals kauften – vom „Rechtsstaat“, der es ihnen gleichsam ein zweites Mal geraubt hat, und selbst das gegen staatlichen Widerstand mit großer Mühe. Was allein die wenigen Rückkehrer wirtschaftlich, gesellschaftlich und kulturell unter großen finanziellen und persönlichen Opfern lokal und regional bewundernswert bewirkt haben, zeigt, was möglich gewesen wäre, wenn man durch Eigentumsrückgabe allen die Rückkehr, das Investieren, das Entfalten vor Ort und den Wiederaufbau eines breiten unternehmerischen Mittelstands ermöglicht und erleichtert hätte. Das aber sollte und soll nicht sein. Politiker, Behörden, Gerichte sperren sich. Auch deshalb hängen die neuen Bundesländer weiterhin zu stark am westlichen Finanztropf. Auch deshalb ist der „langsame Tod Ostdeutschlands“ (Harald Uhlig, Humboldt-Universität Berlin) zu beklagen. Auch deshalb ist die Stimmung dort auf einen Tiefstand gesunken, wie eine Studie für 2006 ermittelt hat. Das Buch berichtet über das Schicksal von neun Familien. Alle repräsentieren bürgerliche Unternehmen im einstigen Mitteldeutschland: eine Großhandlung für Kohle und Benzin, ein Landgasthof mit Bauernhof, eine Werkzeug- und Maschinenfabrik, eine Brauerei, eine Mühle, eine Rinderzuchtgenossenschaft, eine Pharmafabrik, eine Fabrik für Feuerwehrgeräte und ein Möbelhersteller. Nachkommen dieser Familienunternehmen schildern deren Schicksale stellvertretend für viele tausend jener anderen Unternehmen des gewerblichen und industriellen Mittelstands, die 1945 unter die Besatzungsmacht Sowjetunion und damit in den Machtbereich des Kommunismus geraten waren. Durch die neuen Machthaber wurden sie Opfer schwerer Menschenrechtsverletzungen – nicht anders als die großen Industrieunternehmer und die Landwirte mit hundert Hektar und darüber. Die Verfolgung dieses gesamten unternehmerischen Bürgertums bestand im Vertreiben, Verhaften, Verschleppen, Inhaftieren, Hinrichten, Verhungernlassen oder Ermorden. Ein zusätzlicher Verfolgungsakt war die Einziehung des gesamten Vermögens der Opfer, selbst der persönlichen Habe. Denn das Besitz- und Großbürgertum sollte als „Klassenfeind“ auch wirtschaftlich zugrunde gerichtet werden. Selbst die aus der NS-Zeit bekannte „Sippenhaftung“ gehörte dazu. Die Unternehmen der Verfolgten wurden auf Dauer in Staatshand überführt – und dort letztlich ruiniert. Alles dies spiegeln die neun Schicksalsberichte so anschaulich wie bedrückend wider. Orte des Geschehens sind die Städte oder Dörfer Erfurt, Kleinpörthen (Sachsen-Anhalt), Geringswalde, Neuzelle, Neuenklitsche, Radebeul, Luckenwalde und Rostock, die Opfer des Geschehens die Familien Barthels, Klügel, Wünsch, Schweisfurth, Hartwig, Gaede, Northe, Madaus, Koebe und Klinckmann. Mit den Schilderungen des Erlebten, das dieses Buch nun als Beispiele öffentlich macht, treten sie aus der Anonymität heraus, die die vielen tausend anderen Opfer umgibt. Die Nachkommen beschreiben das Entstehen ihrer Unternehmen und was bis zum Kriegsende 1945 aus ihnen geworden war, schildern aus eigenem Erleiden das Kriegsende bei sich zu Hause, die sowjetische Besetzung, das Wüten der Kommunisten, die damit einhergehende Rechtlosigkeit, die Willkür, das Denunziantentum. Jeder tut das auf seine besondere persönliche Weise. Das bewahrt den Leser vor dem Eindruck unnötiger Wiederholung und verleiht dem bekannten historischen Geschehen zusätzliche Authentizität. Der Rechtswissenschaftler Karl Doehring (Heidelberg) stellt in seinem Geleitwort fest, in allen Rechtsverfahren in Karlsruhe und in Straßburg sei die alte Rechtsmaxime „Ex iniuria ius non oritur“ (Aus Unrecht kann kein Recht entstehen) „in unbegreiflicher Weise mißachtet worden“. Er nennt es „geradezu grotesk“ und „eine Perversion des Rechtsdenkens“. Jeder rechtlich denkende Mensch müsse darüber fassungslos sein. Karl Feldmeyer (Berlin) hat ein Vorwort geschrieben und der Völkerrechtswissensschaftler Alfred-Maurice de Zayas (Genf) ein Nachwort. De Zayas ist von der „Willkür der deutschen Gerichte“ schwer enttäuscht und schreibt: „Die Kriminalisierung, Internierung, Verfolgung und Vertreibung von Menschen aus ihrem Familienbesitz war eine juristische und moralische Schande. Von einem Rechtsstaat erwartet man Rehabilitierung und Wiedergutmachung.“ Durch schlichte Rückgabe dessen, was noch vorhanden war, hätte der deutsche Staat diese leisten können. Er tat und tut es nicht, setzt die Schande fort. Er ist somit kein Rechtsstaat mehr. Margarete von Schnehen, die Herausgeberin auch schon des ersten Bandes mit dem gleichen Obertitel, aber mit Schicksalen von Familien der Landadels aus dem Elbe-Havel-Land, hat die Beispiele zusammengetragen und druckfertig gemacht. Viele Fotos aus den Familienschatullen verführen schnell zu einem ersten Durchblättern, und kurze Biographien der Autoren runden den Band ab. Margarete von Schnehen: Im Strom der Zeit. Vertriebener Mittelstand – verlorene Arbeitsplätze. C.A. Starke Verlag, Limburg 2006, gebunden, 375 Seiten, 29,90 Euro
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