Schwarz-Rot-Gold sahen die deutschen Patrioten des Vormärz als die Farben des Reichsbanners an, das für das altehrwürdige, 1806 untergegangene Reich stand. Der Revolutionsdichter Ferdinand Freiligrath hat diese Farben („Das ist das alte Reichspanier, das sind die alten Farben!“) begeistert besungen, aber die Tradition des Alten Reiches wollte er nur in radikaler Umdeutung gelten lassen. Wenn die Schwarz-Rot-Gold-Begeisterung, die bei der Fußball-WM fast die Züge eines Party-Patriotismus angenommen hat, Substanz gewinnen soll, bedarf es der Freilegung verschütteter Traditionen. Dies leistet für eine heute weithin unbekannte Tradition unseres Volkes die Magdeburger Ausstellung „Heiliges Römisches Reich Deutscher Nation“ (962-1495). Die Parallelausstellung im Deutschen Historischen Museum Berlin behandelt den Zeitraum bis zum Ende dieses Reiches (siehe Beitrag unten auf dieser Seite). Die Mittelalter-Ausstellung im Kulturhistorischen Museum Magdeburg hat sich als ein wahrer Besuchermagnet erwiesen. Wie es an Markttagen in Magdeburg rund um das vergoldete Reiterstandbild Ottos des Großen lebhaft zugeht, so drängen sich in diesem Museum, wo das Original dieser Reiterstatue zu finden ist, Menschen aller Volksschichten (also keineswegs nur Bildungsbürger) um die Ausstellungsobjekte, die aus 13 Staaten zusammengetragen worden sind: Urkunden mit schweren Siegeln, imposante Bücher aus Klöstern und Domschulen, kunstvoll bebilderte Chroniken, eindrucksvolle Goldschmiedearbeiten, edelsteinbesetzter Schmuck, goldene und silberne Herrschaftsabzeichen, Rüstungen, sakrale Gegenstände, Münzen, Gemälde, Skulpturen, Modelle. Es gibt gute Gründe dafür, die Magdeburger Ausstellung mit Ottos Kaiserkrönung beginnen zu lassen. Zum einen wird hier die Übertragung der Kaiserwürde und der Reichsgewalt (translatio imperii) vom Reichsvolk der Römer, dann der Franken auf die Deutschen sichtbar, wobei man von Deutschen zu diesem Zeitpunkt nur sehr bedingt sprechen kann, da die Volkwerdung der Deutschen, die sich im Rahmen des Reiches über Jahrhunderte hinzog, erst begonnen hatte. Zum anderen läßt sich her besonders gut der Rückgriff auf antike Vorbilder und die Verknüpfung von abendländischer und morgenländischer Geschichte zeigen. Magdeburg als Ort für diese Mittelalter-Ausstellung – das hat etwas mit Ottos Vorliebe für seine Lieblingspfalz Magdeburg zu tun. Magdeburg sollte das Zentrum der Slawenmission und der Ausdehnung der Reichsgewalt nach Osten sein. Daher betrieb Otto auch gegen viele Widerstände die Errichtung des Erzbistums Magdeburg. Im Magdeburger Dom fand er seine Grablege. Später kamen auch die Kaiser aus den Dynastien der Salier und der Staufer immer wieder in die Elbestadt, feierten hier das Weihnachtsfest und hielten Hoftag. Die Attribute dieses auf Kaiser Otto I. zurückgehenden Reiches („heilig“, „römisch“, „deutsch“) sind ein sprechendes Zeugnis für die wechselvolle und facettenreiche Geschichte großer Teile des heutigen Europas. Der Rombezug dieses übernationalen Reiches meint die Fortführung des antiken Kaisertums, verweist auf das konkurrierende Byzanz und deutet einen universalen Anspruch der Reichsgewalt an. Die Bezeichnung „heilig“ kam unter Kaiser Friedrich I. Barbarossa in den Reichstitel, betonte die Stellung des Kaisers gegenüber den Machtansprüchen der römischen Kirche und beanspruchte eine heilsgeschichtliche Rolle des Reiches, die auch bei früheren Kaisern schon angeklungen war (die geeignete Christenheit dem Weltgericht kommenden Christus entgegenführen). Der Zusatz „deutscher Nation“ kam im 15. Jahrhundert hinzu und betonte die Rolle des deutschen Adels und der Städte (also der politikfähigen, „staatstragenden“ Kräfte aus den Kernlanden des Reichs), ohne daß dadurch der universale Anspruch aufgegeben wurde. In der Ausstellung begegnen die Besucher den Spuren einer vital-kraftvollen, farbenprächtigen Kultur. Diese ist das Ergebnis eines jahrhundertelangen Prozesses, in dem sich die germanischen Kriegergesellschaften der Franken, Sachsen, Bayern, Alemannen usw. Formkräfte und Inhalte von Antike und Christentum aneigneten und so im Reichsverbande zu Deutschen wurden. Diese Ethnogenese hätte vielleicht auf den Schautafeln etwas stärker akzentuiert werden können. Kraft und Stärke, Treue und Verrat, Hochgemutheit und Dienstbereitschaft der Personen und Personenverbände, die in diesen Jahrhunderten geschichtlich wirkten: so manches ahnt man davon beim Durchschreiten der Ausstellungssäle. Verständnisschwierigkeiten ergeben sich für viele Besucher als Folge der deutschen Bildungskatastrophe. In der Alt-BRD wurden die Lehrpläne in kulturrevolutionärer Absicht „entrümpelt“, in der DDR wurden Verständnisbarrieren errichtet, indem man die Reichsgeschichte mit marxistischen Kategorien zu erfassen suchte und dadurch vieles verbog. Zusätzliche Verständnisschwierigkeiten kommen aus der Entchristlichung unseres Volkes, wenngleich diese in Westdeutschland zur Zeit noch schwächer ausgeprägt ist als in den neuen Bundesländern. Beispiel: Wer Jesu Leben, Tod und Auferstehung nicht oder nur in völlig unzulänglicher Weise kennt, kann bei einem wunderschönen Andachtsbuch Kaiser Friedrichs III. zwar die Farben und Formen der Figuren bewundern, versteht aber nicht, was ein solches Buch für das Leben und Wirken dieses Kaisers bedeutete. Die Ausstellung ist, wie nicht anders zu erwarten, um politische Korrektheit bemüht. Aber auf einer der Schautafeln (und im „Kurführer“) gibt es einen Satz, der politische Sittenwächter alarmieren könnte. Über die Zeit gegen Ende des 15. Jahrhunderts heißt es: „Zur Mobilisierung des Widerstandes gegen die muslimischen Türken wurden im Heiligen Römischen Reich außerdem germanisch-deutsche Tugenden propagiert.“ Darf man heute eine Aktualisierung dieses Satzes aussprechen? Oder ist es nur erlaubt, dies im stillen Herzenskämmerlein zu erwägen? Die Ausstellung „Heiliges Römisches Reich Deutscher Nation – Altes Reich und Neue Staaten 962-1495“ ist bis zum 10. Dezember im Kulturhistorischen Museum, Otto-von-Guericke-Str. 68-73, täglich außer montags von 10 bis 17 Uhr zu sehen. Weitere Informationen im Internet unter www.khm-magdeburg.de oder telefonisch: 03 91 / 5 40 35 01.
- Deutschland