Die herbstliche Sonne scheint auf das uralte Augustinerkloster zu Erfurt und auf die Dutzenden dorthin pilgernden Touristen. Vor der historischen Kulisse des Klosters – dem Ausgangspunkt der Reformation – wird gewitzelt, gestaunt, posiert und fotografiert. Die Touristen bewundern die alte Kirche, den Ort, der die Welt veränderte: Martin Luther wurde hier vor 500 Jahren zum Priester geweiht. Sie betrachten die Ruinen der alten Bibliothek, die 1945 von Briten bombardiert wurde. Schweigend stehen sie vor den Grundmauern und lesen ergriffen eine Tafel, auf der die 267 Namen der Bombenopfer aufgelistet sind, die im Keller Zuflucht gesucht hatten. Wenige Meter entfernt steht eine junge Frau alleine neben einer abgetrennten Baugrube – sie weint. Von den Touristen sieht das keiner. Sie wissen offenbar nicht, was sich genau an diesem Ort vor nur wenigen Tagen ereignete: Am Reformationstag, am vergangenen Dienstag hat sich hier ein evangelischer Pfarrer in Brand gesetzt und sich das Leben genommen. Der 73jährige Roland Weißelberg sah den sich ausbreitenden Islam als Bedrohung für die christliche Kirche, wie er in einem Abschiedsbrief an seiner Frau schrieb. An seinen Flammentod erinnern hier nur eine längst verwelkte Rose und eine ausgebrannte Kerze. „Er war so entstellt, daß man ihn nicht erkennen konnte“ In dem hauseigenen Café „Klosterstube“ arbeiten die Schwestern der Communität Casteller Ring – eine evangelische Ordensgemeinschaft. Es duftet nach Kaffee und frischgebackenem Kuchen. Gutgelaunt bedienen die Schwestern die Gäste: Alles wirkt normal. Schwester Ruth, die die Gemeinschaft im Kloster leitet, lächelt freundlich und lädt zum Kaffee ein. „Hinten in der Ecke ist ein Tisch, an dem wir ungestört reden können“, sagt sie. Dort sei man von den vielen Besuchern abgeschirmt. „Es ist in den letzten Tagen viel Presse dagewesen“, erzählt die aus der Schweiz stammende Ruth Meili. Sie ist offenbar geübt, den Medien Auskunft zu geben: Die Antworten sprudeln aus ihr heraus, bevor man Zeit hat, Fragen zu stellen. Aber als sie sich hinsetzt und zur Ruhe kommt, wird sie nachdenklich. Sie schüttelt den Kopf: „Ich kann es nicht verstehen“, sagt sie traurig. Der Selbstmord habe alle Mitarbeiter des Klosters zutiefst schockiert. An dem besagten Tag war der im Augustinerkloster gehaltene Kantaten-Gottesdienst die zentrale Feier zum Reformationstag in Erfurt. „In der Kirche waren etwa 300 Menschen. Hinter dem Haupteingang der Kirche war ausnahmsweise ein Podest für den Chor aufgebaut worden, und die Tür war abgeschlossen“, erzählt Schwester Ruth. So wurde in den Medien vermutet, daß Pfarrer Weißelberg sich ursprünglich im Gottesdienst anzünden wollte. Als er dann auf die verriegelte Tür stieß, habe er sich umentschieden und sich außerhalb der Kirche angezündet. „Um etwa 10.45 Uhr sind einige Sänger aus der Kirche raus, als sie mit ihrem Teil des Gottesdienstes fertig waren. Ungefähr zwanzig Menschen standen also vor der Kirche“, sagt Schwester Ruth. Beim Abendmahl sei dann eine Frau zu ihr gekommen und habe gesagt, daß ein Mensch in Not sei. „Ich rannte raus und habe in der circa 2,5 Meter tiefen Baugrube der alten Bibliothek einen Menschen liegen gesehen. Als ich kam, brannte er zwar nicht mehr, aber er hat wortwörtlich noch geglüht“, erzählt sie. „Einige haben zu mir gesagt, ich soll da nicht runter. Es kursierten kurzzeitig Gerüchte, er habe Sprengstoff bei sich“, sagt sie. „Das war natürlich lächerlich, und so konnte mich nichts davon abhalten da runter zu ihm zu gehen. Ich wußte, der Mensch braucht Hilfe.“ Als Schwester Ruth in die Baugrube herunterstieg, hat sie plötzlich ein Bild vom barmherzigen Samariter vor ihren Augen gehabt. „Es war das Bild aus einem Kinderbuch, aus dem meine Mutter uns immer Bibelgeschichten vorgelesen hatte. Durch dieses Buch habe ich auch Lesen gelernt“, erzählt sie. Sie glaubt, Gott habe ihr das Bild geschenkt, um ihr Kraft und Mut zu geben sich in die Asche des Mannes reinzuknien. „Er hatte unheimliche Schmerzen, und er hat geschrien. Ich konnte zu diesem Zeitpunkt nicht mehr verstehen, was er gerufen hat. Als er sich anzündete, soll er ‚Jesus‘ und ‚Oskar‘ gerufen haben. Mit letzterem meinte er wohl den DDR-Pfarrer Oskar Brüsewitz, der sich aus Protest 1976 öffentlich verbrannte“, erzählt Schwester Ruth. „Er war zu diesem Zeitpunkt bereits so entstellt, daß man ihn gar nicht mehr erkennen konnte. Mir war nicht klar, daß dieser Mann eigentlich Pfarrer Weißelberg war.“ Später wurde er durch seine Ehefrau nur anhand des Eherings identifiziert. In seinem Abschiedsbrief an sie bittet er um Verzeihung und nennt die Bedrohung des Islams als Grund für seine Tat. „Ich habe mich zu ihm runtergekniet und seinen Arm gehalten. Dort an der Stelle war er nicht so stark verbrannt. Er hat darauf reagiert – aber zu sagen, daß er ansprechbar war, wäre zuviel. Ich habe mit ihm gebetet und gesagt, daß Gott bei ihm sei und ihn nicht fallenlassen würde. Er werde ihn nicht verdammen. Und daß niemand und nichts ihn von Gott trennen könne. So wurde er langsam ruhiger und antwortete mit ‚ja‘.“ Bald kamen Polizei und Rettungssanitäter. Die Polizei sperrte den Tatort ab und vertrieb einige Schaulustige. „Jeder, der den Zustand des Mannes und seine Verbrennungen sah, wußte, daß er auf keinen Fall überleben wird“, sagt Schwester Ruth. Die Rettungssanitäter hätten ihm nur eine Spritze gegeben. Gestorben ist er erst am nächsten Tag in einer Spezialklink für Verbrennungen in Halle. „Die Rettungshelfer haben insgesamt sehr gut reagiert und mir viel Platz und Zeit gelassen, um mit ihm zu beten.“ Schwester Ruth sagt, daß der Körper des Pfarrers so grausam entstellt war, daß auch die Sanitäter schockiert waren. Ein Rettungshelfer habe gefragt, ob Schwester Ruth auch für sie beten könne. „Es war furchtbar. So etwas habe ich auch zum ersten Mal gesehen. Gott hat mir aber Kraft gegeben, und ich habe mich in dieser Situation stark gefühlt“, sagt sie. „Die Gottesdienstbesucher haben von dem Ganzen nichts mitbekommen. Wir hatten es ihnen nicht gesagt, sondern sie gebeten, die Seitentüren zu benutzen. Die Polizei hatte ja alles bereits abgesperrt. Dadurch kamen die Besucher gar nicht an der Grube vorbei“, erzählt Schwester Ruth. „Die meisten haben von dem tragischen Vorfall wegen des Feiertages erst am übernächsten Tag aus der Zeitung erfahren.“ Gegen 13 Uhr habe Frau Weißelberg im Kloster angerufen und gefragt, ob der Gottesdienst denn nicht schon lange vorbei wäre. Sie wunderte sich, warum ihr Mann nicht längst daheim sei – das wäre gar nicht seine Art, wo sie doch Gäste eingeladen hätten. „Wir haben ihr erzählt, was auf dem Klostergelände geschehen ist. Sie vermutete bereits das Schlimmste“, erzählt Schwester Ruth. Zwei Tage nach dem Tod von Pfarrer Weißelberg reflektiert Schwester Ruth die möglichen Gründe für seinen Selbstmord. Der am 4. Juli 1933 in Königsberg geborene Weißelberg, der 1953 bis 1958 evangelische Theologie in Jena und Berlin studierte, befand sich seit 1989 im Ruhestand. Er sei bis zum Ende an allem interessiert gewesen. „Er war humorvoll, engagiert und aktiv. Ich fand ihn immer sehr mutig und direkt“, erzählt sie. „Er hat immer das gesagt, was viele denken, aber sich nicht trauen zu sagen.“ Weißelberg legte sich immer wieder mit der SED an Zeitungsberichten zufolge habe er genau das bereits in der DDR getan: Kollegen erzählten, Weißelberg habe sich immer wieder mit der SED angelegt. Ein organisierter Widerstand sei das zwar nie gewesen, aber die Menschen in seiner ehemaligen Gemeinde rechneten ihm noch hoch an, daß er gegen das SED-Regime war, erzählte sein Nachfolger in Windischholzhausen Uwe Edom gegenüber der Frankfurter Allgemeinen Zeitung. In seinem Abschiedsbrief habe Weißelberg seine Sorge über die Ausbreitung des Islam geäußert. „Für uns hier in Thüringen ist Islam kein großes Problem, weil hier kaum Moslems leben. Wir lesen zwar darüber in der Zeitung und machen uns Gedanken, aber bisher ist die Bedrohung für uns abstrakt geblieben“, sagt sie. „Aber damit ist Weißelbergs Sorge nicht abgetan. Es ist die weltweite Bedrohung, die ihm Sorgen bereitete. Der 11. September 2001, der Karikaturenstreit, die Christenverfolgung in moslemischen Ländern und der letzte Papstbesuch in Deutschland sind alles Signale, die wir ernst nehmen müssen.“ Man könne nicht sagen, daß das alles kein Problem ist, sagt Schwester Ruth. „Wir müssen uns fragen, wie wir mit dieser islamischen Radikalisierung als Kirche und als Christen umgehen. Alle betonen, daß der Islam eine friedliebende Religion sei – was ich gerne glaube -, aber kann man uns vorwerfen, daß wir durch die Ereignisse der letzten Jahren ein anderes Bild entwickelt haben? Da hilft es nicht nur zu sagen, daß Islam ja vom Ansatz her eine friedliche Religion ist“, sagt sie. „Ich glaube, Roland Weißelberg hatte das Gefühl, er wurde von der Kirche in seiner Sorge nicht ernst genommen.“ Deshalb glaubt sie, er habe den Selbstmord als letzte Möglichkeit gesehen, um gehört zu werden. „Ich bin anderer Meinung: Selbstmord ist niemals eine Lösung – vor allem nicht für einen Christen“, sagt Schwester Ruth. „Ob er sein Ziel dadurch erreicht hat? Ich glaube kaum. Denn seine Tat wird in der Evangelischen Kirche Deutschlands (EKD) wohl kaum etwas bewegen. Innerhalb der EKD wächst zwar durch Bischof Wolfgang Huber und unseren Bischof Axel Noack langsam ein wenig mehr Profil – und nicht nur gegen den Islam, sondern insgesamt“, meint sie. Das sei sehr wichtig, denn die Kirche müsse mehr Profil zeigen, um den Menschen Orientierung bieten zu können. Verändern werde sich aber trotzdem nicht viel. „Pfarrer Weißelberg war nicht verrückt oder geistig labil, wie er in der Presse teilweise abgestempelt wurde. Das ist nur eine vereinfachte Erklärung dafür, was passiert ist. Er war höchstens unbequem, denn er hat immer wieder das für viele unangenehme Thema Islam angesprochen“, erklärt Schwester Ruth. „Ich glaube nicht, daß er sich in der Kirche während eines Gottesdienstes angezündet hätte – wie es auch spekuliert worden ist. Dafür liebte er die Kirche viel zu sehr. Ohne diese Liebe hätte er die Kirche auch nicht immer wieder angemahnt und gewarnt.“ „Wir brauchen solche Stimmen in der Wüste. Er hat immer wieder seinen Finger auf die Wunde gelegt und unbequeme Dinge angesprochen“, sagt Schwester Ruth. „Unsere Aufgabe als Kirche und Gemeinde ist nun zu fragen, wie wir mit solchen unbequemen Brüdern und Schwestern in Zukunft umgehen. Wir müssen überlegen, wie wir sie wertschätzen und ernst nehmen können.“ „Ich kann das einfach nicht verstehen“ Ein paar Kilometer weiter im Stadtteil Windischholzhausen, in dem Weißelberg bis 1989 zweieinhalb Jahrzehnte Pfarrer der St. Michaeliskirche gewesen war, fängt es an zu schneien: Der erste Schnee in diesem Jahr. Ein älterer Mann läuft mit seinem Hund die Hauptstraße entlang. „Ja, ich habe von dem schrecklichen Selbstmord gehört“, sagt er sichtlich ergriffen. „Es ist tragisch, daß es mit unserem Pfarrer auf diese brutale Weise enden mußte. Ich kann das einfach nicht verstehen.“ Er wohne gleich neben der Kirche, erzählt er. „Dadurch kannte ich ihn persönlich, zwar nicht aus der Gemeinde, denn ich bin kein Christ. Aber ich kannte ihn so, wie man sich im Dorf und als Nachbarn halt kennt. Wir haben uns oft unterhalten.“ Weißelberg sei immer sehr nett und hilfsbereit gewesen. „Er hat nicht nur den Christen geholfen, sondern jedem, der nur irgendwie Hilfe brauchte. Damals waren es hier im Osten noch harte Zeiten“, erzählt er. Ob der Pfarrer wirklich Angst vor dem Islam hatte – er wisse es nicht. „Wir haben uns jedenfalls nie darüber unterhalten. Aber es sind ja auch ein paar Jahre her, als er hier noch aktiver Pfarrer war.“ In Erfurt gebe es nur eine kleine Minderheit von Moslems und daher auch keine konkrete Bedrohung. „Anderseits, wenn Weißelberg die deutschland- oder Weltweite Entwicklung meinte, dann gibt es durchaus Gründe zur Besorgnis. Dann kann ich es sogar nachvollziehen“, sagt er, bevor er mit seinem Hund durch das Tor in seinen Garten verschwindet. Weißelbergs ehemalige Kirche St. Michaelis steht in der Dorfmitte und sieht durch den Schnee dunkel, einsam und verlassen aus. Stichwort: Oskar Brüsewitz Aus Protest gegen das kirchenfeindliche DDR-System wählte Oskar Brüsewitz am 18. August 1976 vor der Zeitzer Michaeliskirche den Flammentod. Zuvor hatte der an der Predigerschule Erfurt ausgebildete Theologe Plakate aufgestellt: „Die Kirche in der DDR klagt den Kommunismus an! – Wegen Unterdrückung in Schulen an Kindern und Jugendlichen“. Im Abschiedsbrief schilderte er die Situation der Kirche als „scheinbar tiefen Frieden“, doch tobe „zwischen Licht und Finsternis ein mächtiger Krieg“. Vier Tage nach der Tat erlag der 47jährige seinen Verbrennungen. Lesen Sie hierzu das Interview mit dem Weggefährten von Brüsewitz, Klaus-Reiner Latk, (Seite 3) und den Beitrag „Das Fanal von Zeitz“ (Seite 16). Fotos: Augustinerkloster zu Erfurt als Tatort: Der Reformator Martin Luther wurde hier am 27. Februar 1507 zum Priester geweiht; Roland Weißelberg als junger Pfarrer; Schwester R. Meili: „Ich betete mit ihm“; Tatort: In dieser Baugrube zündete sich Pfarrer Weißelberg an; Touristen im Kloster: Unwissend über die Tat Weißelbergs