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Lebenslügen und Propaganda

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Bis Mitte der neunziger Jahre konnte bereits in zahlreichen Studien die Legende vom vermeintlich antifaschistischen Musterstaat DDR eindeutig widerlegt werden. Das hat die Versuche insbesondere der SED-Nachfolgepartei Linkspartei.PDS nicht beeinträchtigt, die kommunistische Diktatur weiterhin mit einem solchen Verweis zu rehabilitieren. So wird immer wieder behauptet, daß sich der durch die Bundesrepublik „vielgeschmähte“ staatliche Antifaschismus als geeigneter Schutz gegen eine Renaissance rechtsextremen Gedenkengutes und daraus resultierender Gewalttaten erwiesen habe. Dabei wird ebenso vergessen, daß auch in der DDR trotz nahezu flächendeckender Überwachung der Bevölkerung durch das Ministerium für Staatssicherheit und staatlicher Repressionen die Bildung und Ausbreitung von radikale Skinhead-Gruppen seit den frühen achtziger Jahren kaum noch eingedämmt werden konnte, durchaus nicht wenige Mitglieder der Partei und ihr nahestehender Organisationen bereits NS-Funktionsträger gewesen waren und sich die autoritären Hinterlassenschaften des Regimes als günstiger Nährboden für Gewalttäter nach 1989 entpuppten. Nunmehr liegt auch eine weitere detaillierte Studie des Historikers Henry Leide zur Vergangenheitspolitik in der DDR vor. Leide arbeitet bei der Bundesbeauftragten für die Unterlagen des Staatssicherheitsdienstes der ehemaligen Deutschen Demokratischen Republik (BStU) – vormals Gauck-, jetzt Birthler-Behörde genannt, wo er die Auseinandersetzung mit dem NS-Unrecht und dessen juristische Ahndung sowohl in der DDR als auch in Westdeutschland untersucht. Letzterer Aspekt ist vor allem daher nicht zu unterschätzen, da sich viele Unterlagen aus NS-Dienststellen bis 1989 auf dem Gebiet der DDR befanden und so von westdeutschen Stellen häufiger Ersuchen um die Bereitstellung von Material nach Ost-Berlin gerichtet wurden, als gemeinhin heute angenommen wird. Zudem wirkte der prominente DDR-Anwalt Friedrich Karl Kaul als Anklagevertreter bzw. Nebenkläger in zahlreichen großen Prozessen in Westdeutschland mit, so auch beim Auschwitz-Prozeß in den sechziger Jahren in Frankfurt am Main. In der jungen DDR war man sich schnell darüber im klaren, welche Bedeutung dem eigenen Besitz von Originalakten aus der NS-Zeit zukam. Für die Staats- und Parteiführung und das MfS stellten bereits früh diese Akten keineswegs nur historisches Material dar, welches zum Zwecke der juristischen und zeitgeschichtlichen Aufarbeitung geeignet erschien. Zugleich wurde es stets auch unter dem Blickwinkel betrachtet und ausgewertet, welche Teile sich am besten zu gesellschaftspolitischen Aktionen gegen den Westen nutzen ließen. Einen weiteren Aspekt, unter dem insbesondere die Einsicht durch das MfS erfolgte, stellte der Versuch dar, Belastete auf dem eigenen Territorium sowie in der Bundesrepublik mit diesem Material gezielt zu erpressen und so eine Mitarbeit als Zuträger des Ministeriums oder auch eine künstliche Loyalität gegenüber dem SED-Staat zu erzwingen. Zu diesen Zwecken war man bereit, den staatlichen Antifaschismus in den Hintergrund zu stellen, sofern es dem Ziel – der Stärkung des eigenen Staates bzw. der Beschädigung des internationalen Ansehens Westdeutschlands – diente. Daß ein solcher am puren aktuell-politischen Nutzwert orientierter Umgang mit der Vergangenheit von Beginn an fragwürdig und heuchlerisch war, läßt sich leicht nachvollziehen. Es grenzte an ein perfides Spiel: Einerseits forderte die DDR eine möglichst umfassende Aufarbeitung der NS-Vergangenheit in der Bundesrepublik ein. Erbat die westdeutsche Justiz jedoch Aktenmaterial, welches Sachverhalte im Nationalsozialismus und die Verstrickungen von einzelnen Personen beleuchten sollte, dann reagierten die DDR-Behörden häufig zögerlich oder verweigerten sich gar diesen Ansinnen. Denn zum einen mußte man fürchten, daß neben den Enthüllungen über NS-Verbrechen und deren Protagonisten in der Bundesrepublik auch möglicherweise die Verstrickung von höheren DDR-Kadern dadurch offenkundig wurde – was der Legende von der „vollständigen Ausrottung und der kompletten Aufarbeitung des Nationalsozialismus“ in der DDR widersprochen hätte. Andererseits bedeutete jeder NS-Prozeß in der Bundesrepublik für die DDR einen propagandistischen Verlust. Denn damit wurde das ehrliche Bemühen der westdeutschen Behörden um die Bestrafung von NS-Verbrechen deutlich – was wiederum die Legende von der „BRD als unverbesserlichen Hort alter Nazis und Kriegsverbrecher“ beschädigte. Bedeutend bequemer und im politischen Kampf weitaus geeigneter erschien der DDR-Führung daher die Erstellung von Dokumentationen über die „dunkle Vergangenheit“ Prominenter, etwa über den Vertriebenenminister Theodor Oberländer oder den Bischof Otto Dibelius; beides Persönlichkeiten, die im SED-Staat als unerwünschte Personen galten. Was sich nicht in das gewünschte Muster einfügen ließ oder wo Belastungsdokumente fehlten, wurden sie in der Fälscherwerkstatt des MfS einfach produziert. Bezeichnenderweise werden heute von einigen linken Dogmatikern trotz ihrer Fragwürdigkeit diese Sammlungen immer noch weitgehend kommentarlos nachgedruckt und verbreitet, ohne auf deren Charakters und die damals angewandten Erstellungsmethoden aufmerksam zu machen. Leides Beschreibung dieser Instrumentalisierung der Vergangenheit wirft insofern nicht nur ein bezeichnendes Licht auf die Geschichte des MfS, sondern erlaubt einen Blick hinter die Kulissen einer von Propaganda und Geschichtsfälschungen geprägten DDR-Vergangenheitspolitik. Daß damit auch eine Lebenslüge des „ersten antifaschistischen Staat auf deutschen Boden“ zerstört wird, ist vor diesem Hintergrund nur eine Begleiterscheinung. Henry Leide: NS-Verbrecher und Staatssicherheit – Die geheime Vergangenheitspolitik der DDR. 2. durchgesehene Ausgabe. Vanderhoeck & Ruprecht, Göttingen 2006, gebunden, 448 Seiten, 29,90 Euro Foto: Zurückgetretener Bundesvertriebenenminister Theodor Oberländer (links) mit dem Union-Fraktionsvorsitzenden Heinrich Krone, Karlsruhe 1960: Belastungsdokumente aus der MfS-Fälscherwerkstatt

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