Es gibt in der Regel zwei Gründe, private Korrespondenz zu veröffentlichen. Entweder ist ihr Inhalt von allgemeinem Interesse, oder die Persönlichkeit der Briefpartner verdient als solche schon Aufmerksamkeit. Nicht jede Edition läßt sich aber derart doppelt gut begründen. Es kommt zwar vor, daß sich bedeutende Menschen auch bedeutende Briefe schreiben. Die Regel ist das nicht. Manche Korrespondenz Martin Heideggers etwa gelangt bekanntlich über den Austausch von Geburtstagsgrüßen und Wetterbeobachtungen nicht hinaus. Läßt sich für die Herausgabe dessen, was der Literaturkritiker Fritz J. Raddatz und der Schriftsteller Uwe Johnson einander zwischen 1966 und 1983 mitzuteilen hatten, also wenigstens ein guter Grund finden? Ihr geistiger Rang wäre dafür kaum ins Feld zu führen. Denn gleich den ersten Band der „Jahrestage“-Tetralogie von Johnson begrüßte Marcel Reich-Ranicki 1970 mit „altbacken“. Und auch Raddatz, seit den „Mutmaßungen über Jakob“ (1959) des Autors Lobredner, zweifelt inzwischen, ob sein zuletzt schwer alkoholkranker, 1984 verstorbener Schützling „wirklich so bedeutend“ gewesen sei, ob er je mehr produziert habe als „Notatprosa“, „dröge/bösartig/charmelos“. Mit Raddatz selbst steht es freilich nicht besser. Soeben 75 geworden und, wie er in der Welt (vom 3. September) an seinem Geburtstag mitteilt, auf Sylt Todesgedanken nachhängend, vermochte dank seines Talents zur Selbstinszenierung, als Rowohlt-Verlagsleiter und Feuilletonchef der Zeit im Kulturgeschwätz der sechziger bis achtziger Jahre zwar eine Zeitlang mit Reich-Ranicki, „unserm Lautesten“ (Eckhard Henscheid), zu konkurrieren. Doch mehr Wert als die Zeitung von gestern hat das nicht. Die kurz vor dem Zeit-Rauswurf gestartete Versuch des Kritikers, die Seiten zu wechseln und Romane zu produzieren, ergab nur „Mückenschisse“ (Selbsteinschätzung). Als promovierter Literaturwissenschaftler, 1971 mit einer Zitatensammlung über „Traditionen und Tendenzen“ der DDR-Literatur habilitiert von Hans Mayer, den Raddatz in seinen „Erinnerungen“ (2003) als grausam überschätzten Vielschreiber („Hauptsache gedruckt“) denunziert, gelang ihm nur Durchschnitt, ein Heine-Essay hier, eine Benn-Biographie dort. Zu mehr reichte der Bildungsfundus einfach nicht. Im sechsten Lebensjahrzehnt mußte der Tucholsky-Adorant eingestehen, Joseph de Maistre und Rudolf Borchardt nicht zu kennen oder von Heidegger („nie gelesen“) allein „landläufige Vorurteile“ auf der Pfanne zu haben. Konsequenz eher als Schludrigkeit war es daher, daß „FJR“ Goethe zum Zeitzeugen der ersten deutschen Eisenbahn machte. Das lieferte 1985 den Anlaß, ihn bei der Zeit auszubooten, wo er doch so lange als Einäugiger über den Blinden thronen durfte, weil die noch weniger gelesen hatten als er. Vielleicht wird man ihn einzig um dieser kuriosen Entlassung willen im Gedächtnis behalten. Kurz also: Allein der Inhalt könnte die Publikation dieses Austausches zweier minder bedeutender Briefschreiber rechtfertigen. Doch schon die infantilen Anreden („Groß-Uwe“ und „Fritzchen“) verheißen nichts Gutes. Ein wenig Literatentratsch, viel Selbstmitleidiges vom extroviert-kindlichen FJR, Kurzangebundenes des notorisch mißtrauisch-introvierten Johnson. Dazu Seitenblicke auf die „Gruppe 47“, Marginales, Ressentimentpflege, Mißverständnisse, die zum skandalisierten Abbruch der Beziehungen führten, die aber erneut dokumentieren, daß FJR weder für das Scheitern von Johnsons Ehe noch gar für das kümmerliche Ende des Schriftstellers verantwortlich zu machen ist. Wer sich hingegen – nach Raddatz‘ geglückt maliziösen Porträts über die „schauerliche Gräfin“ (Dönhoff), den „gerissenen Vorstadtadvokaten“ (Bucerius), den „Mann ohne Moral“ (Augstein), die er in seinen „Erinnerungen“ bietet und wie er sie kürzlich wieder, gegen das „Schrott-Land“ USA, dessen und die bundesdeutsche Literatur-Schickeria wütend, in Tagebuch-Auszügen hintuscht (Die Welt) – weitere solcher Vergnüglichkeiten aus dem Hamburger Medienpanoptikum erhofft hatte, dürfte schwer enttäuscht werden. Das gilt auch für ein Geschenkbändchen, das sich Raddatz selbst zum Geburtstag überreicht hat. Sein Zweitwohnsitz Kampen auf Sylt ist zwar immer noch das Wochenendziel vieler, die sich mit ihrem „Ferkeljournalismus“ ihre „teuren Eigentumswohnungen“ an der Außenalster verdienen müssen, aber mit diesen so geschmähten Ex-Kollegen gibt sich FJR hier nicht ab. Nur wohldosierte Nebensätze konservieren Gesellschaftsklatsch. Er will statt dessen die natürliche Faszination der Nordseeinsel erklären, von der die beigefügten Schwarzweißfotos Karin Székessys am Ende dann mehr vermitteln als viele Worte. Über den immerhin ahnungsvollen „Einsamkeitsmagnetismus“, der die Besucher dorthin locke, gelangt der Landschaftsschilderer Raddatz nicht hinaus. Verglichen damit lüftete die 25jährige Thüringerin Irmgard Heilmann den Schleier über den Zauber ihrer „Wahlheimat“ 1944 schon beherzter, als sie an die „Empfindung der Zeitlosigkeit“ anknüpfte. Bei Raddatz hingegen darf man darauf wetten, daß er wieder moniert, der Hindenburgdamm heiße immer noch so wie seit 1927, daß Göring bis 2005 Ehrenbürger Kampens war oder daß am Lister Ellenbogen Albert Speer, „der nichtsnutzige Verbrecher“, seine Bunkerspuren hinterlassen habe. Hier kann einer nicht aus seiner Haut. Wer eben mit Tucholsky aufgewachsen ist und nicht mit Borchardt, dem Herausgeber von „Der Deutsche in der Landschaft“ (1927), wer als Prediger gegen die „Notstandsgesetze“, als rororo-aktuell-Macher und Dauerpolterer „gegen Rechts“ strömlingshaft stets nur auf dieser westdeutsch-konventionellen Hauptstraße „porschierte“, vermag seine Wahrnehmungsschwächen und Befangenheiten auch in der „kummerlosen Abgeschiedenheit“ (Thomas Mann) Sylts nicht abzuwerfen. Erdmut Wizisla (Hrsg.): „Liebes Fritzchen“. „Lieber Groß-Uwe“. Uwe Johnson – Fritz J. Raddatz. Der Briefwechsel. Suhrkamp Verlag, Frankfurt/Main 2006, gebunden, 340 Seiten, Abbildungen, 26,80 Euro Fritz J. Raddatz: Mein Sylt. Mare Buchverlag, Hamburg 2006, gebunden, 156 Seiten, Abbildungen, 18 Euro