Geboren 1886 und aufgewachsen in Dörfern der Provinz Brandenburg. Belangloser Entwicklungsgang, belangloses Dasein als Arzt in Berlin.“ Gottfried Benn liebte es – wie in dieser biographischen Minimalnotiz zu seinen Beiträgen in der von Kurt Pinthus 1920 herausgegebenen „Menschheitsdämmerung“, der bahnbrechenden „Symphonie jüngster Lyrik“ – demonstrativ wenig Aufhebens um seine private Person zu machen; um so mehr inszenierte er seine öffentliche Person. So unbedeutend er sein privates Dasein darstellt, so unverkennbar steht es doch hinter all seinen poetologischen Selbstaussagen und Selbstdeutungen, seinen Alter-ego-Konzentraten wie dem Arzt namens „Rönne“, seinen literarischen Themen und Milieus, ja selbst hinter den ästhetisch-metaphysischen oder sich betont naturwissenschaftlich gerierenden Essays. Gegenüber dem eitlen, selbstgefälligen Gebaren der Elfenbeinturmliteraten kehrt er den „kleinen Mann aus dem Volke“ hervor, der mit einer Pulle Bier auf dem Balkon sitzt und Rabattmarken klebt, den soldatischen Militär- oder zivilen Kassenarzt, der sich mit wirklichen statt bloß eingebildeten Problemen herumschlägt und daher auch die menschheitsgeschichtliche „Lage erkennt“, den Mediziner, der sich mit Krebs- und Selbstmordstatistiken befaßt, den Realisten, der für weltfremden Utopismus nur zynischen Spott übrig hat. Ein oberflächlicher Blick auf seine Biographie könnte den am 2. Mai 1886 in Mansfeld in der Westprignitz geborenen und zunächst im neumärkischen Sellin, später in Frankfurt/Oder aufgewachsenen Pfarrerssohn, zumindest während des weitaus größten Teils seines Lebens, beinahe als Hobbyliteraten erscheinen lassen: Anders als viele Schriftstellerkollegen, die ein geisteswissenschaftliches Studium mühsam ihren ein „realistisches“ Fach anratenden Vätern abtrotzen mußten, studierte er anfangs widerwillig Theologie und Philologie, um sich dann von 1905 bis 1910 endlich an der Kaiser-Wilhelms-Akademie in Berlin dem ersehnten Medizinstudium widmen zu können. 1912 promovierte er mit einer Arbeit „Über die Häufigkeit des Diabetes mellitus im Heer“; nebenbei erschienen seine Morgue-Gedichte, die in ihrer schonungs- und teilnahmslos sezierenden Sprache, ihrer Ästhetisierung von Krankheit, Tod und Verfall als literarische Sensation empfunden wurden. Nach einer kurzen Tätigkeit als Militärarzt war er zunächst Assistenzarzt am Krankenhaus Charlottenburg, dann seit 1914 Sanitätsarzt im Kriegsdienst. Im besetzten Brüssel arbeitete er an einem Prostituiertenkrankenhaus: “ (…) ein ganz isolierter Posten, lebte in einem konfiszierten Haus, elf Zimmer, allein mit meinem Burschen, hatte wenig Dienst, durfte ausgehen, war mit nichts behaftet, hing an keinem, verstand die Sprache kaum, strich durch die Straßen, fremdes Volk; eigentümlicher Frühling, drei Monate ganz ohne Vergleich“. Nach dem Krieg war er nur künstlerisch eine Instanz Literarischer Niederschlag dieser seltsam entrückten Zeit sind seine „Gehirne“, die Novellen um Rönne, den „Flagellanten der Einzeldinge“, „der keine Wirklichkeit ertragen konnte, aber auch keine mehr erfassen, der nur das rhythmische Sichöffnen und Sichverschließen des Ichs und der Persönlichkeit kannte“ und angesichts dieses Ich- und Weltzerfalls „unbedingt der Mythe und ihren Bildern glaubte“, wie Benn in seinem „Lebensweg eines Intellektualisten“ beschreibt. Nach dem Krieg lebt er als Facharzt für Haut- und Geschlechtskrankheiten bis 1935 in Berlin, wählt – nach kurzem Engagement für das neue System 1933/34 – den Eintritt in die Wehrmacht als „aristokratische Form der Emigration“, muß Schreibverbot und andere Repressalien erdulden, heiratet 1938 ein zweites und nach dem Krieg – sowie dem Selbstmord seiner Frau auf der Flucht vor den herannahenden Russen – ein drittes und letztes Mal. 1948 erscheinen die „Statischen Gedichte“, die sein lyrisches Spätwerk darstellen und ihn als einen der ganz Großen in der Literatur des 20. Jahrhunderts erscheinen lassen; Benn ist nun, trotz scharfer Kritik von seiten ehemaliger Emigranten, eine literarische Koryphäe in der frühen Bundesrepublik, hält vielbeachtete Vorträge, wird 1951 mit dem Büchner-Preis und im folgenden Jahr mit dem Bundesverdienstkreuz 1. Klasse ausgezeichnet, ohne in dem allerneuesten Staat der Mentalität nach auch nur so weit angekommen zu sein, wie er dies 1933 in „Der neue Staat und die Intellektuellen“ zumindest selbst geglaubt zu haben scheint. Er ist im Kulturbetrieb der unmittelbaren Nachkriegszeit lediglich eine künstlerische, keinesfalls jedoch eine geistig-moralische Instanz – eine Differenz, die heute kaum noch möglich erscheint. Am 7. Juli 1956 stirbt der Dichter, der gut vierzig Jahre zuvor die „Krebsbaracke“ in die deutsche Literatur eingeführt hatte, an Knochenkrebs. Die Jüngeren gehen andere Wege, sie irritiert Benn als einer, der sich mit der nationalsozialistischen Vätergeneration gemein gemacht hat, ohne doch wirklich zu dieser gehört zu haben. Gleichwohl läßt sich Benns „Verstrickung“ kaum als politischer Irrtum fassen, von dem man sich, durch Erkenntnis geläutert, distanzieren könnte und müßte (was Benn trotz scharfer und ehrlich-angewiderter Kritik am Nationalsozialismus auch nie getan hat); vielmehr handelt es sich bei Benns angeblich politischen Stellungnahmen in Wirklichkeit eher um philosophisch-ästhetische Äußerungen und – wie der Stil dieser Texte zeigt – besonders auch um ästhetische Phänomene, für welche die Fragen nach Wahrheit und Irrtum, nach Gut oder Böse nicht unmittelbar gelten und die daher von moralischen Vorwürfen letztlich unberührt bleiben. Er sezierte das Detail und vernachlässigte das Ganze Mediziner aus Leidenschaft und Dichter der kalten, das Detail unter Vernachlässigung des Ganzen sezierenden und konservierenden Form; hauptberuflicher Arzt, dessen Dasein „belanglos“ ist, weil für ihn nur die Kunst zählt, und von dem ein Vorgesetzter dennoch behaupten konnte, er habe es „für vollkommen unmöglich gehalten“, daß man sich mit ihm „über etwas anderes unterhalten kann als über Krebsstatistik oder Bauchfellücken“; ein Literaturgott, der einmal vorrechnete, er habe in den schaffensfreudigen Jahren zwischen fünfundzwanzig und vierzig insgesamt nur neunhundertfünfundsiebzig Mark mit seinen Büchern verdient: Gottfried Benns äußerlich schlichte Existenz stellt sich vielschichtiger dar, als seine autobiographische Selbstzuschreibung eines „Doppellebens“ zum Ausdruck bringt, eher ist sie wabenartig oder, wie er am Beispiel seines Roman des Phänotyp ausführt, „orangenförmig gebaut“: „Eine Orange besteht aus zahlreichen Sektoren, den einzelnen Fruchtteilen, den Schnitten, alle gleich, alle nebeneinander, gleichwertig, die eine Schnitte enthält vielleicht einige Kerne mehr, die andere weniger, aber sie alle tendieren nicht in die Weite, in den Raum, sie tendieren in die Mitte, nach der weißen, zähen Wurzel, die wir beim Auseinandernehmen aus der Frucht entfernen. Diese zähe Wurzel ist der Phänotyp, der Existentielle, (…) einen weiteren Zusammenhang der Teile gibt es nicht.“ Ebensowenig wie eine individuelle Biographie, die die einzelnen Lebensphasen synthetisiert, gibt es für ihn eine sinnstiftende Geschichte, eine überhistorische Moral oder eine transzendente Metaphysik. Einzig die Kunst ist berufen, das Disparate nach formalen Kriterien neu zu komponieren; daraus entsteht „der Stil der Zukunft“, ein „Roboterstil“, „Montagekunst“; „der Mensch muß neu zusammengesetzt werden aus Redensarten, Sprichwörtern, sinnlosen Bezügen, aus Spitzfindigkeiten, breit basiert -: Ein Mensch in Anführungsstrichen.“ Und dennoch ist Benn kein Postmodernist; Kunst ist für ihn, wie für Nietzsche, die letzte metaphysische Tätigkeit. Hätte er Form und Inhalt nicht, einem erstaunlich traditionellen Dualismus verhaftet, getrennt, dann hätte er den metaphysischen Charakter auch seiner Kunst tiefer verstehen können, anstatt alles für willkürlich und fiktiv zu erklären. Der Dichter Benn steht trotzdem nicht in Anführungsstrichen. Baal Müller , Jahrgang 1970, ist promovierter Philosoph und lebt als Verleger und freier Schriftsteller in München. Gottfried Benn in seiner Berliner Wohnung (1955): „Doppelleben oder Wie man sich selbst zusammensetzt“ lautet der Titel einer Ausstellung, die von diesem Freitag an im Literaturmuseum der Moderne in Marbach gezeigt wird. Öffnungszeiten: täglich außer montags von 10 bis 18 Uhr, mittwochs bis 20 Uhr. Begleitet wird die Schau von einer wissenschaftlichen Tagung in Zusammenarbeit mit der Universität Heidelberg zu Benns Modernität im deutschen und internationalen Kontext, seiner Wirkung in der Nachkriegszeit und seiner Bedeutung für die Postmoderne (7./8. Juli) sowie mehreren Einzelveranstaltungen, die sich mit Benns Lektüre und seiner Korrespondenz befassen. Zur Finissage am 27. August werden der Kulturtheoretiker Klaus Theweleit und der Benn-Biograph Gunnar Decker erwartet, die sich über das Verhältnis des Dichters zu Friedrich Nietzsche austauschen wollen. Weitere Information im Internet unter www.dla-marbach.de .