Am Anfang seines letzten zu Lebzeiten erschienenen Buches, „Ich bin gern in Venedig warum“, heißt es: „Ich komme immer zu früh, ich hab mein ganzes Leben darunter gelitten, daß ich zu früh komme.“ Vor allem kam Wolfgang Koeppen als ein uneheliches Kind zur Welt, am 23. Juni 1906 im vorpommerschen Greifswald. Um sich wenigstens schemenhaft vorzustellen, was das bedeutete, muß man sich zurückerinnern an das Kind, das man war, das mehr als sechzig Jahre später in Vorpommern aufwuchs und von der ehrpusseligen Großmutter darauf hingewiesen wurde, daß ein Nachbarsjunge „unehelich“ sei. Man verstand: „unehrlich“ und paßte genau auf seine Sachen auf, wenn er einem nahekam. Am besten, man vermied den Kontakt ganz. Koeppen kam als ein Außenseiter zur Welt. Das prägte seinen Blick auf die Welt, seine Poetik, den melancholischen Ton, der seine sämtlichen Texte durchzieht. Den Mythos des armen, verkannten Literaten hat er gerne gepflegt. Er konnte es sich leisten, denn sein Verleger Siegfried Unseld schätzte ihn und finanzierte ihn großzügig. Koeppen kaufte sich, wie man heute weiß, teuere Anzüge und Weine. Sein Geschmack war, wie der von Oscar Wilde, sehr einfach: Er beanspruchte für sich nur das beste. Rein geschäftlich gesehen war Koeppen für seinen Verleger eine Fehlinvestition, aber das symbolische Kapital, das er verkörperte, ließ sich nicht mit Gold aufwiegen. Seit den frühen sechziger Jahren war der Außenseiter sehr zeitgemäß und zählte zu Koryphäen der Suhrkamp-Kultur. Zu seinem achtzigsten Geburtstag erschien eine sechsbändige Ausgabe seiner Gesammelten Werke. Am 15. März 1996 starb Wolfgang Koeppen in München. Heute rechnet man ihn zu den Klassikern der deutschen Nachkriegsliteratur. Vor allem drei Romane machen seinen Ruhm aus: „Tauben im Gras“ (1951), das im Nachkriegs-München spielt, „Das Treibhaus“ (1953), ein Buch über die politische Klasse in der jungen Bundeshauptstadt Bonn, und „Der Tod in Rom“ (1954). Bereits in der Weimarer Republik hatte Koeppen Artikel und Aufsätze publiziert – von 1931 bis 1933 war er Feuilletonredakteur beim Berliner Börsen-Courier -, im „Dritten Reich“ waren zwei Romane von ihm erschienen, sein Debüt „Eine unglückliche Liebe“ (1934) und ein Jahr später „Die Mauer schwankt“. Sie wären längst vergessen, wenn ihr Autor nicht später die besagten drei Bücher geschrieben hätte. Zu Beginn der neunziger Jahre wurde bekannt, daß Koeppens auch der Verfasser des Buches „Jakob Littners Aufzeichnungen aus einem Kellerloch“ ist, das auf ein Manuskript eines Juden zurückgeht, der die NS-Zeit im Untergrund überlebt hatte. Koeppen sollte den Urtext lediglich in eine lesbare Form bringen, und zwar, wie er seinem Verleger schrieb, als Gegenleistung für ein paar Care-Pakete. Er formte ihn aber zu einem eigenen, fiktiven Text um. Es handelt sich um einen der frühesten Versuche, sich über die Empathie mit den NS-Opfern zu läutern und zum guten Deutschen zu werden. In „Tauben im Gras“ setzte er virtuos die Mittel der literarischen Moderne ein: Schnitt- und Montagetechnik, innere Monologe, die Stimmenpolyphonie, subkutane mythische Anspielungen usw. Von der Literaturwissenschaft werden Joyce, Faulkner, Dos Passos, Döblin zum Vergleich herangezogen. Koeppen war ein unendlich besserer Autor als der seinerzeit berühmtere Heinrich Böll, der selbst in seinem ambitioniertesten Roman, „Billard um halbzehn“ (1959), niemals Koeppens Niveau erreichte. 1962 wurde Koeppen mit dem Georg-Büchner-Preis ausgezeichnet, später folgten zahlreiche weitere Ehrungen. Gewiß, „Tauben im Gras“ mit seinen schwarzweißen Liaisons, schwulen Dandys und ewig-häßlichen Deutschen mutete den damaligen Lesern ein bißchen viel zu, die sich ohnehin lieber an Ernst von Salomons „Fragebogen“ hielten. Aber die neue Zeit war mit Koeppen, sein Sieg unaufhaltsam. Seine gemäßigte Moderne galt bald als schick, und er verband mit ihr die richtige Gesinnung. In einer Schlußszene bündeln sich wesentliche Handlungsstränge des Romans. Da sind die Kriegswitwe Carla und ihr kleiner Sohn Heinz. Carla ist schwanger von Washington Price, einem schwarzen GI, der sie heiraten will und davon träumt, in Paris ein Café zu eröffnen, in dem niemand unerwünscht ist. Richard Kirsch ist ein jüdischer Emigrant, der als GI nach Deutschland zurückgekehrt ist. Sie sehen sich konfrontiert mit einem deutschen Mob, der sich im Hofbräuhaus Mut angetrunken hat und sich aufmacht zum Sturm auf einen schwarzen Soldaten-Klub. An der Spitze des Sturms steht Carlas Mutter, Frau Behrend, eine unverbesserlichen Nazine: „Die Steine flogen gegen die horizontblaue Limousine. Sie trafen Carla und Washington, sie trafen Richard Kirsch, der hier sein Amerika verteidigte, das freie, brüderliche Amerika, indem er den Gefährdeten beistand, die ruchlos geworfenen Steine trafen den europäischen Geist, sie verletzten die Menschheit, sie trafen den Traum von Paris, den Traum von Washington’s Inn, den Traum Niemand ist unerwünscht, sie konnten den Traum nicht töten, der stärker als jeder Steinwurf ist, und sie trafen einen kleinen Jungen, der mit dem Schrei ‚Mutter‘ zum horizontblauen Wagen gelaufen war.“ In diesem kurzen Abschnitt sind wirklich schon alle Ingredienzen versammelt: die Westbindung, der wörtlich genommene Traum der Menschheitsverbrüderung, der Gesinnungskitsch. Der aufgeregte politisch-moralische Appell ist keine beliebige Stimme, sondern die Conclusio des Romans, mit der der Autor aus dem Text heraustritt und zum Agitator wird. Koeppen traf exakt den Ton, der in Deutschland in historisch kurzer Zeit verbindlich werden sollte. Seine politischen Äußerungen wirken aus aktueller Sicht geradezu konformistisch. Anläßlich antisemitischer Schmierereien, die, wie man heute weiß, von der Stasi veranlaßt worden waren, schrieb Koeppen 1960: „Das neuerdings Geschehene scheint mir weniger ein Rückfall als das Zeichen einer nicht überwundenen Anfälligkeit zu sein.“ Und er sinnierte, „wenn der Gute mal der Überlegene wäre, brauchte man nicht die Gerichte in Verlegenheit zu bringen“. In solch glücklichen Zeit dürfen wir heute leben. Wichtiger als die großen, epischen Aussagen sind die kleinen miniaturartigen Darstellungen und Szenen, in denen Gegenwart und Mythos sich auf originelle Weise durchdringen. Einer dieser Szenen aus dem „Tod in Rom“, in der Siegfried, ein deutscher Musiker, einem römischen Ganymed folgend, zum Tiberufer herabsteigt, wo er jedoch mit einem verkommenen Bengel vorliebnimmt, um trotzdem glücklich aus der Unterwelt wieder heraufzusteigen, hat der Koeppen-Herausgeber Hans-Ulrich Treichel einen kleinen Aufsatz gewidmet. Siegfried sei deshalb glücklich, „weil es ihm gelingt, der trüben Gegenwart Glanz zu verleihen, die Umarmung mit dem häßlichen tropfnassen Burschen umzudeuten in ‚die feuchte umschlingende Umarmung des mythischen Elements'“. Manchmal gelang das auch Wolfgang Koeppen.
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