In der gegenwärtigen philosophischen Diskussion spielt der Münchner Philosoph Helmut Kuhn (1899-1991), der der Generation von Denkern wie Leo Strauss und Hans-Georg Gadamer zugehört, kaum noch eine nennenswerte Rolle; seine gehaltvollen Schriften sind fast allesamt nur noch antiquarisch erhältlich. Um so verdienstvoller ist es daher, daß Hugo Herrera in seiner (bei Paul-Ludwig Weinacht erstellten) Dissertation auf lobenswert knappem Raum und in wohltuend nüchterner Sachlichkeit die entscheidende Grundlagenreflexion darstellt, auf deren Basis Kuhn ganz unzeitgemäß den Staat in den Mittelpunkt seiner politikphilosophischen Reflexion stellte. Kuhn hatte zudem seit den späten sechziger Jahren mehrfach deutlich in grundsätzlich konservativer Weise zu politischen Problem Stellung genommen und sich kritisch mit der Studentenrebellion sowie der Kulturrevolution in der katholischen Kirche auseinandergesetzt. Herrera zeichnet zunächst Kuhns subtile Gedanken über „Das Sein, das Nichts und das Gute“ nach, die sich vielfach kritisch auf Heidegger beziehen, widmet sich dann in je einem Kapitel der praktischen sowie der politischen Philosophie und schließt mit einer nützlichen Erörterung über „Helmut Kuhn, Carl Schmitt und den Begriff des Politischen“, die sich auf die frühe Besprechung der Schmittschen Schrift durch Kuhn im Jahre 1933 konzentriert. Diese habe bisher nicht die gebührende Aufmerksamkeit erfahren (Herrera erwähnt indes nicht die wichtige Würdigung bei Michael Großheim, Politischer Existentialismus, Tübingen 2002). Schmitt hatte Kuhn ebenso wie Leo Strauss als aufmerksamen Leser seiner Schrift erkannt, und Herrera vertritt die plausible These, daß trotz der persönlichen Abneigung Kuhns gegenüber Schmitt dessen Einfluß auf Kuhns politisches Denken unleugbar sei. So betont Kuhn, daß der Notstandscharakter des Staates potentiell immer gegenwärtig bleibe, und zwar aus anthropologischen Gründen – der Unruhefaktor ist der Mensch selbst, der niemals auszuschalten sein wird. Ebenso hält Kuhn ein gewisses näher zu bestimmendes Maß an Homogenität für ein Staatsvolk für notwendig und lehnt einen Weltstaat als Mittel zur Friedenssicherung ab. Ohne die systematischen Schwächen des Kuhnschen Staatsdenkens zu übersehen, die unter anderem darin liegen, daß er den Staat unhistorisch als eine Universale begreift, versucht Herrera doch, die Kuhnsche Position so stark wie möglich zu machen. Er zeigt, daß sich Kuhn mit seiner Aneignung der Philosophie des Aristoteles an die klassischen Klugheitslehren anschließt, die auf das für den Menschen Gute zielen. Kuhn verteidigt den Staat so als in der Struktur des Seins gründendes Gebilde. Der Staat ist für Kuhn nicht, wie dies moderne Theorien wollen, ein bloßer Mechanismus, ein Normgefüge oder eine gesellschaftliche Funktion; vielmehr obliege es ihm, die Verwirklichung von Gerechtigkeit und von Gutem möglich zu machen. Hugo Herrera: Sein und Staat. Die ontologische Begründung der politischen Praxis bei Helmut Kuhn. Verlag Königshausen&Neumann, Würzburg 2005, broschiert, 173 Seiten, 28 Euro