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Das Ende von „Little Germany“

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Im Rückblick gewinnen stetige Entwicklungen, die sich über einen langen Zeitraum erstrecken und zunächst meist unbemerkt bleiben, oft durch ein herausragendes Ereignis Gestalt. Diese eine Begebenheit steht dann in der Erinnerung stellvertretend für die gesamte Entwicklung. Auch der Niedergang von Little Germany, New Yorks deutschem Stadtviertel, bietet einen solchen Kristallisationspunkt. Das langsame Sterben dieses Viertels, das sich über Jahrzehnte hinzog, ist unauslöschlich mit einer erschütternden Katastrophe verbunden. Der amerikanische Historiker Edward T. O’Donnell hat in seinem Buch „Der Ausflug“ diesen Untergang, der sich an einem Vormittag unter dramatischen Umständen wie in einem Zeitraffer vollzog, wieder in Erinnerung gerufen. Das Viertel „Kleindeutschland“ war seit den gewaltigen Einwanderungsströmen des 19. Jahrhunderts Anlaufpunkt für viele Deutsche die über New York in die Vereinigten Staaten kamen. Um 1870 lebten in dem vierzig Häuserblocks umfassenden Viertel am Südzipfel Manhattans bereits 60.000 Deutsche, die zumeist aus wirtschaftlicher Not ihrer Heimat den Rücken gekehrt hatten. Mittelpunkt der Gemeinschaft waren unter anderem zahlreiche Vereine und Organisationen sowie die Kirchengemeinden, darunter die Lutherische Markuskirche. Deren beliebter und hoch angesehener Pfarrer George C. F. Haas, eine Stütze und Integrationsfigur des Stadtbezirkes, veranstaltete einmal im Jahr einen Ausflug, an dem vor allem Frauen und Kinder teilnahmen und der es den ansonsten hart arbeitenden Menschen ermöglichte, für ein paar Stunden der Hektik der pulsierenden Millionenmetropole zu entkommen. Auch am 15. Juni 1904 machten sich etwa 1.300 Mitglieder der Gemeinde bei schönstem Sommerwetter auf, um mit einem Ausflugsdampfer zu einem nahen Vergnügungspark zu fahren. Doch was als Vergnügungsfahrt geplant war, wird zu einer Fahrt in die Hölle. Kurz nachdem das Schiff am East River in Richtung Brooklyn abgelegt hat, bricht auf dem komplett aus Holz gebauten Schaufelraddampfer „General Slocum“ ein Feuer aus, das in rasender Geschwindigkeit das gesamte Schiff erfaßt und in einer der größten Katastrophen in der Geschichte New Yorks mündet. Eine schlecht ausgebildete Mannschaft, ein überforderter Kapitän, mangelhafte Feuerlöscheinrichtungen und unbrauchbare Rettungswesten und -boote führen zum Desaster. 1.021 Menschen, Frauen und Kinder zumeist, verbrennen oder ertrinken. Allein 314 Kinder unter 14 lassen ihr Leben. Die halbleeren Schulklassen in Little Germany legten am nächsten Morgen ein trauriges Zeugnis von den Ausmaßen des Unglücks ab. Die gesamte Stadt und die Vereinigten Staaten stehen unter Schock. Weltweit, nicht zuletzt auch in Deutschland, der alten Heimat der Opfer, macht diese Katastrophe Schlagzeilen. Kaiser Wilhelm II. zeigte sich bestürzt und spendete für seine ehemaligen Untertanen. Durch das Feuer waren die Hälfte der Gemeindemitglieder der Markuskirche umgekommen. Auch für das gesamte Viertel der deutschen Einwanderer, für den sozialen Zusammenhalt der Deutschen, der ihnen in ihrer neuen Heimat half, bei aller notwendigen Anpassung an das englischsprachige Umfeld die eigene Kultur und die Traditionen ihrer deutschen Heimat zu bewahren und zu pflegen, war das Inferno ein tiefer Einschnitt. Sechs Jahre nach dem Unglück hatte Little Germany praktisch aufgehört zu existieren, war der Mikrokosmos mit deutschen Geschäften, Bibliotheken, Restaurants und Biergärten für immer verloren. Nur noch ein Bruchteil der Familien, die 1904 hier gelebt hatten, waren geblieben, der Rest war in alle Gegenden New Yorks und der Vereinigten Staaten zerstreut. Viele hatten das Gebiet verlassen, um ihren Erinnerungen an das grauenhafte Geschehen zu entfliehen. Erste Auflösungserscheinungen des deutschen Viertels hatte es indes bereits Jahre vor der Katastrophe gegeben, doch das Feuer beschleunigte den Prozeß. O’Donnell erzählt in seinem Buch nicht allein die tragische Geschichte vom Ende von Little Germany. Sein Buch handelt auch von der Habgier der Verantwortlichen der Schiffahrtsgesellschaft, die an der Ausrüstung und Wartung des Dampfers sparten, und von alltäglichen Korruption in New York, die im Falle der „General Slocum“ unzureichende Sicherheitsinspektionen zur Folge hatte. Die Folgen für die Verantwortlichen waren überschaubar. Der Kapitän wurde zu zehn Jahren Gefängnis verurteilt, alle anderen Beteiligten gingen straffrei aus. O’Donnell beschreibt den Ablauf der Katastrophe und das Schicksal zahlreicher Personen in teilweise romanhaften Szenen. Manch deutscher Historiker wird über derlei dichterische Freiheit pikiert die Augenbrauen heben. Dem Autor gelingt es aber auf diese Weise, trotz des grauenhaften Themas ein im besten Sinne flüssig erzähltes Werk vorzulegen, zumal er sich bei allen Schilderungen streng an die Quellen hält. Anhand von Interviews mit Überlebenden (die letzte starb 2004), Zeitschriftenartikeln und Gerichtsprotokollen hat er die Ereignisse vom 15. Juni 1904 sowie die Hintergründe und Folgen akribisch rekonstruiert. Dabei wird er seinem selbstgesteckten Anspruch gerecht, als „guter Historiker“ eine „fesselnde Geschichte“ zu erzählen. Während die Katastrophe sinnbildlich für den Untergang von Little Germany steht, veranschaulicht die Erinnerung an das Unglück die wechselhafte Bedeutung, die den deutschen Einwanderern im Verlauf des 20. Jahrhunderts in den Vereinigten Staaten zukam. So brach etwa die Berichterstattung der New Yorker Zeitungen zu den Jahrestagen der Tragödie mit Beginn des Ersten Weltkrieges ab. Das Mitgefühl für die Opfer, schreibt O’Donnell, wurde durch antideutsche Ressentiments ausgelöscht. Die Katastrophe, die der Schriftsteller James Joyce in seinem Werk „Ulysses“ literarisch verewigt hat, geriet in Vergessenheit und verschwand beinahe spurlos aus dem kollektiven Gedächtnis der Stadt – weil die Opfer Deutsche waren. Heute jedoch gibt es wieder Gedenkveranstaltungen, und eine eigens gegründete Gesellschaft, die General Slocum Memorial Association, kümmert sich um das Andenken an die Katastrophe. Nach den für New York traumatischen Terroranschlägen vom 11. September 2001 erinnerte man sich in der Stadt zudem wieder verstärkt an das Unglück von 1904, das allein in der Dimension der Opferzahl die nächstgrößere New Yorker Tragödie darstellt. Auch Hollywood nahm sich der Geschichte an. In den dreißiger Jahren wurde die Katastrophe Gegenstand eines Films mit Clark Gable. Auch hier setzte sich die „Entdeutschung“ der Tragödie fort, die im Ersten Weltkrieg ihren Anfang genommen hatte. Nicht der Ausflug einer deutschen Kirchengemeinde bildete in dem Streifen „Manhattan Melodrama“ den Hintergrund – sondern der einer irischen Gemeinde. Edward O’Donnell: Der Ausflug. Das Ende von Little Germany, New York. Marebuchverlag, Hamburg 2006, gebunden, 420 Seiten, Abbildungen, 22,90 Euro Foto: Die brennende „General Slocum“ reißt 1.021 Menschen in den Tod: Nach den Anschlägen vom 11. September 2001 ist die Raddampfer-Katastrophe die zweitgrößte Tragödie in der Geschichte New Yorks

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