Das einfältige Menschenherz ist immer einiger Bezugspersonen bedürftig, an denen es sich polarisieren kann. Der Schriftsteller Martin Walser gehört zu deren wichtigsten, und diesen Rang hat er mit den Jahren stetig befestigt. Nach den Debatten um die Paulskirchenrede 1998 und den Roman „Tod eines Kritikers“ 2002 stellt sich nun das Münchner Literaturhaus die Aufgabe, Werk und Lebenslauf neu auszubreiten. Es „möchte ihn hinter den Gerüchten, die ihn umstellen und verbergen, kenntlicher machen und dazu beitragen, fixierte Vorurteile in Frage zu stellen“. Am 8. März war zur Vernissage eingeladen. Vor dem Literaturhaus hatten sich im abendlichen Schneetreiben zwei Asta-Studenten aufgebaut und drückten jedem Gast warnend ein Flugblatt in die Hand. „Deutschland denken heißt Auschwitz denken“, prangt es darauf und: „Stoppt die geistigen Brandstifter!“ Im Text wird auch vor der JUNGEN FREIHEIT gewarnt. Zur aufgeforderten Mahnwache waren nur die beiden selbst erschienen, wahre Polarisationsopfer. Oben füllte sich der Saal mit annähernd 400 Neugierigen, Martin Walser las selbst aus seinen unveröffentlichten Tagebüchern der Jahre 1951 bis 1962; einem angehäuften Vorrat an Gedanken, aber vor allem Beobachtungen: „Durchdringen kann mich nur, was vom Hören und Sehen gespeist ist.“ Mit diesem Schlüsselsatz offenbart sich der Autor jener Denkschule zugehörig, die mutig genug den Sinnen traut. Das ist etwas Grundsätzliches, man bleibt bei Sinnen. Seine vorgelesenen Tagebuchaufzeichnungen enthalten kuriose Episoden, Reisebilder und Ereignisse als Zeugnisse lustvoller Beobachtungen in psychologischer Präzision. Als Bruchstücke sind sie in die Romane eingewoben. Im Grunde ist Walser ein Aphoristiker, dessen Aussage sich erst im Gesamtwerk erschließt. Überhaupt braucht es eine Weile, bis sich seine Bücher öffnen. Oft spricht Humor aus den Sätzen: „Beten ist schwer, weil ich so gut im Formulieren bin.“ Walsers Gestus beschränkt sich dabei meist sparsam auf seine rechte Hand. Seinen „Materialismus“ sieht er darin, „daß der Stoff zu allem taugt“. Dieser Stoff, ihm in all den Jahren geschenkt, setzt sich nun in seinem Werk ab. Am Ende der Lesung verblieb seine Feststellung: „Meine Gefährlichkeit wächst, je weniger ich verwende von dem, was ich weiß.“ Die eröffnete Ausstellung in der Säulenhalle gleich neben dem Café zeigt Fotografien, Briefe, Erstausgaben und Manuskripte aus dem Privatarchiv des Autors, ebenso erstmals seine Tagebücher. An zehn Schaupunkten sind auf jeweils einer Leinwand Filmbeiträge zu sehen. Auf einem Hörführer läßt sich der jeweilige Beitrag akustisch verfolgen. In „Heimat am See“ ist die Kindheit in Wasserburg am Bodensee dokumentiert, das katholische Milieu der Dorfwelt und der Kampf der Mutter ums wirtschaftliche Überleben. „Der junge Reporter“ reist 1957 nach Warschau und filmt für das junge Fernsehen eine Reportage über Polen. Walser bewegt sich seit ihren Anfängen auf der Bühne bundesdeutscher Medienöffentlichkeit. Schon 1952/53 ist er Mitarbeiter der Sendereihe „Zeichen der Zeit“, die immer wieder heftige Proteste besonders von Vertriebenenverbänden auslöst. In der Rubrik „Schriftsteller werden“ liest der Autor unter anderem aus „Halbzeit“ (1969), „Meßmers Gedanken“ (1985) und „Finks Krieg“ (1996), aus Anlaß seines 75. Geburtstages 2002. 1955 erhält er den Preis der Gruppe 47. Sein literarischer Erfolg setzt verhalten ein und wächst stetig. „Die Anselm-Kristlein-Trilogie“ behandelt einen beispielhaften Vertreter der sich verändernden BRD als anpasserischen Opportunisten. „Politik“ heißt der fünfte Punkt der Ausstellung. 1970 fordert Walser die Industriegewerkschaft Kultur, er tritt öffentlich auf und gestikuliert heftig. Auch wenn er die Forderung nach „Engagement“ skeptisch bewertet, hat er immer wieder politisch eingegriffen. 1961 setzt Walser sich mit anderen Autoren für die Wahl Willy Brandts zum Bundeskanzler ein. Später gelten seine Sympathien der DKP. Diese Linkswendung ist die Folge seines Widerspruchs gegen die Vasallenhaltung Bonns gegenüber den USA zur Zeit des Vietnamkrieges. Reisen ist ihm Gegenpol zur Heimatverbundenheit „Auschwitz und die Folgen“ behandelt das brisanteste Thema. Schon 1964 besucht Walser den Frankfurter Auschwitz-Prozeß, den er in dem Essay „Unser Auschwitz“ verarbeitete. In der Verteufelung der Angeklagten in der Presse sieht er nur eine bequeme Form der Distanzierung. Auf dem Leuchtschirm läßt sich die vollständige Rede in der Paulskirche 1998 anläßlich der Verleihung des Friedenspreises des Deutschen Buchhandels nachvollziehen. Daß dies keine Sonntagsrede war, sieht man den Gesichtern der Versammelten an. Da ist die Rede von den „Meinungssoldaten mit vorgehaltener Moralpistole“, „grausamem Erinnerungsdienst“, daß „in den Medien… eine Routine des Beschuldigens entstanden“ sei und „daß sich in mir etwas gegen die Dauerpräsentation unserer Schande zu wehren“ beginnt, ebenso von der „Instrumentalisierung unserer Schande zu gegenwärtigen Zwecken“. Das sind deutliche und eindeutige Worte. Erstaunlich bleibt der einsetzende Beifall: Nur Ignatz Bubis und Friedrich Schorlemmer bleiben still. Das Korrektiv bereitet sich vor. Es ist überhaupt das Verdienst dieser Ausstellung, literarische und politische Geschichte so lebendig zu vergegenwärtigen. Das Luminar holt Vergangenes in die Gegenwart. „Unterwegs“ zeigt Walser als Reisenden. Reisen bildet den Gegenpol zur Heimatverbundenheit, ist konzentriertes Leben, in dem sich die Ereignisse verdichten, Stoff für einen Dichter. In manchem Jahr war er 150 bis 200 Tage unterwegs, meist in Deutschland und der Schweiz. Als Stipendiat und Gastprofessor weilt er mehrmals in den USA. Die Anwürfe und Unterstellungen gegen Walser nach seinem Roman „Tod eins Kritikers“ im Jahre 2002 sind noch in guter Erinnerung, ebenso seine souveräne Entgegnung. In „Wirkungen“ wird der Fall noch einmal ausgebreitet, mit Berichten aus der Tagesschau und dem berüchtigten Artikel Frank Schirrmachers in der FAZ. Während Walser sich in seinem Roman mit der Macht eines Kritikers im Medienzeitalter beschäftigt, malt Schirrmacher die Projektion an die Wand, der Autor wolle den mißlungenen Mord Hitlers an Marcel Reich-Ranicki nachholen. Was war geschehen? Walser hatte in seiner Satire die jüdische Herkunft seines Kritikers nicht ausgespart und damit in ein Wespennest gestochen. Aber es bleibt nur eine Satire, und das hat seit Aristophanes literarische Tradition. Der inflationäre Gebrauch des Antisemitismusvorwurfs ist dabei selbst nur Zeugnis einer wankenden Interessenlage. Die Tagebücher, Kernstück seiner Werke, werden in „Leben und Schreiben“ vorgestellt. Ein kleiner Film zeigt Walser am heimatlichen Schreibtisch seine Tagebuchnotizen durchforstend. Über vierzig Bände füllte er im Jahrzehntenlauf als sein Gedächtnis und Spiegel seines Bewußtseins. Die Bedeutung seiner Notizen erklärt er in dem Film. In seinem letzten Essayband über die „Verwaltung des Nichts“ findet sich als Quintessenz seines Denkens der Grundsatz: „Man kann Menschen besser beurteilen nach dem, was sie verschweigen, als nach dem, was sie sagen.“ Für einen so erzählfreudigen Schriftsteller ist das ein reichlich seltsames Bekenntnis, doch schließlich heißt es bei ihm auch: „Nichts ist ohne sein Gegenteil wahr.“ Foto: Martin Walser (l.) mit Reinhard Baumgart und Siegfried Unseld beim Tennis (1969): Beten ist schwer Foto: Walser bei seiner Lesung im Literaturhaus: Erzählfreudig Die Ausstellung im Literaturhaus München, Salvatorplatz 1, wird bis zum 1. Mai gezeigt Mo.-Fr. 11 bis 19 Uhr, Sa./So. 10 bis 18 Uhr. Der Eintritt kostet 4 Euro. Parallel zur Ausstellung ist das Buch von Jörg Magenau, „Martin Walser.Eine Biographie“, erschienen (Rowohlt Verlag, 624 Seiten, 24,90 Euro).