In Spanien gedenken sie heuer des fünfzigsten Todestags von José Ortega y Gasset (1883-1955), jenem großartigen Essayisten und Kulturkritiker, der einst auch hierzulande sehr bekannt war. Das Datum des Todes ist der 18. Oktober, Pankraz möchte aber schon jetzt, just vor Abschluß des Bundestagswahlkampfs, etwas ausführlicher an Ortega erinnern. Der Leser wird sehen, warum.
Ortega war im francistischen Spanien etwa das, was Peter Huchel zur gleichen Zeit in der DDR war: eine Durchlüftungs-Instanz erster Ordnung, ein stets offenes Fenster in die weite Welt internationaler Geistesbestrebungen, staatsloyal, aber sanft parteikritisch, energisch eintretend für sachliche, ungegängelte kulturelle Diskussionen. Zwischen Huchels Zeitschrift Sinn und Form und Ortegas berühmter Revista de Occidente und ihren Ablegern bestehen interessante Parallelen.
Der Spanier hatte in Deutschland, in Leipzig und Marburg, studiert und war tief von deutscher Philosophie und Kultur geprägt. Er nannte sich, im Anschluß an Nietzsche, einen "Perspektivisten", sein Anliegen war nicht die Systembildnerei, sondern der genaue Blick auf soziale und geistige Tatbestände, die er in "endgültige", lebensnahe und dennoch aus den Tiefen der Tradition gespeiste Sprache umzusetzen suchte. Das gelang ihm auch, auf entzückende Weise.
Schon seine Titel machen größten Appetit auf ihn. Hier eine kleine Auswahl: "Meditation über den Rahmen"; "Wie unterhält man sich beim Golfspielen?"; "Der sportliche Ursprung des Staates"; "Ästhetik in der Straßenbahn"; "Gott in Sicht"; "Was heißt ‚Abenteuer‘?"; "Die Vertreibung des Menschen aus der Kunst"; "Triumph des Augenblicks".
Dabei begehrte Ortega, ein in jeder Hinsicht ernstzunehmender Philosoph zu sein, und die Fachkollegen akzeptierten ihn auch als solchen. Glänzende Form und frappierender, Horizonte aufreißender Inhalt bedingten sich bei ihm, das Argument bekräftigte sich durch die Art, wie es serviert wurde. Es entstand – ein Ortega-Wort – eine "Philosophie der Funde".
Philosophie der Funde: Der Vorzug dieser Art von Philosophieren aus Nietzscheschem Geist liegt nicht nur darin, daß sie unerhört problembewußt ist, daß sie Probleme auch noch dort wahrnimmt, wo andere nur noch eine Spur im Sand wahrnehmen, sondern fast noch mehr darin, daß sie es versteht, am scheinbar abgelegenen und philosopieunwürdigen Einzelding ganze Bedeutungsketten aufzuhängen, ohne doch je aufdringlich zu insistieren. Insistieren heißt Schwitzen, und Ortega war viel zu aristokratisch, viel zu hidalgohaft gesinnt, um sich je dem Schwitzen auszusetzen.
Sein bekanntestes Buch, der "Aufstand der Massen" von 1930, atmet ganz und gar Nietzscheschen, aristokratischen Geist – und ist dennoch eine große Verteidigung und Inschutznahme des sogenannten einfachen Volkes, darin besteht seine Originalität. Ortega trennt scharf die Volkskultur von der modernen Massenkultur, wobei aber das, was er als "Massenkultur" beschreibt, keineswegs die Kultur des sprichwörtlichen "Mannes von der Straße" und schon gar nicht die dröhnende "Kultur" der Fußballtribünen und jugendlichen Massenkonzerte ist. Sondern es kommt ganz anders.
Als sozialen Träger der Massenkultur macht Ortega den "zufriedenen jungen Herrn" aus, einen typischen "Letzten Menschen" im Sinne Nietzsches und gleichzeitig eine Karikatur von dessen Übermenschen. Der z.j.H. ist ein viertel- bis halbintellektueller Aufsteigertyp, der sich selber keineswegs für "Masse" hält, sondern felsenfest davon überzeugt ist, etwas Besonderes zu sein.
Was kennzeichnet die Psychologie des z.j.H.? Nun, er will in erster Linie "modern" sein, up-to-date, auf der Höhe des Zeitgeistes. Deshalb macht er blindlings jede Mode mit. Er ist nicht bereit, sich über einen Tatbestand gründlich zu informieren, glaubt jedoch, überall mitreden zu können. Seine Beziehungen zu den Mitmenschen, besonders zu denen des anderen Geschlechts, sind "sachlich", "cool", würde man heute sagen, ohne Eros. In erotischen Dingen gibt er sich extrem freizügig, reagiert überaus empfindlich, wenn man ihm – etwa aus Rom – ethische Auflagen machen will.
Der z.j.H., sagt Ortega, ist der Erbe einer großen kulturellen Tradition, deren Wurzeln er nicht mehr kennt und der er sich in keiner Weise mehr verpflichtet fühlt, deren zivilisatorische Früchte er aber nichtsdestoweniger ohne Hemmungen genießt, wobei er dieses Genießen als "sein gutes Recht" betrachtet. Er verlangt wie selbstverständlich absolute soziale Sicherheit, ja, kontinuierlichen sozialen Zuwachs, empfindet es aber als Zumutung, wenn man ihm gewisse gesellschaftliche Verpflichtungen abverlangt. Er hält sich selbst für das Maß aller Dinge und verfolgt den mit Haß, der ihn in diesem Glauben wankend macht.
Und so formuliert Ortega die Folgen, die aus dem Aufstand des z.j.H. entstehen: "Daß sich Regierungen im Zeichen des Liberalismus nach der Decke des zufriedenen jungen Herrn strecken müssen, weil er ja der typische Wechselwähler ist und letztlich über die Zusammensetzung der Parlamente entscheidet, ist der Krebsschaden der Freiheit. Denn zur Erhaltung dieser Freiheit bedarf es großer, unentwegter Anstrengungen, aber wie kann man große Anstrengungen erwarten, wenn man es mit einer Masse zufriedener junger Herren zu tun hat? Wie kann man da eine Elite des Dienens aufbauen, die unsere in vielem so bedrohte Gesellschaft doch so bitter nötig hätte?"
Dergleichen wurde, wie gesagt, 1930 geschrieben, mitten in der schwersten Weltwirtschaftskrise. Es klingt jedoch, als wäre es direkt für unsere aktuellen Verhältnisse des Jahres 2005 geschrieben. Keine schlechte Empfehlung für Señor Don José Ortega y Gasset. Er war offenbar ein besserer Prophet als sämtliche Sozialisten und Neo-Liberalisten zusammengenommen.