Obwohl er seit sechzig Jahren tot ist, geistert Hitler lebendiger denn je durch alle Medien. Sogar die internationalen Konflikte unserer Tage stehen im Schatten des „Hitler-Syndroms“. Zumindest vertritt diese These Eric Frey, Politikwissenschaftler und Journalist, der feststellen will, ob der Rekurs auf das „Dritte Reich“ die amerikanische Diplomatie lenkt und beeinflußt. Die Nachgiebigkeit der Westmächte vor Hitler habe damals die Gefahr eines Krieges heraufbeschworen und beherrsche heute als „Hitler-Syndrom“ die Bush-Regierung. In fast jedem außenpolitischen Gegner sehen die USA „einen neuen Hitler“. Washington sei total vom „Hitler-Syndrom“ beherrscht. Frankreich und Deutschland repräsentieren in amerikanischer Sicht die „schwächliche“ Appeasement-Politik. Das „alte Europa“ wolle, klagt man jenseits des Atlantiks, nicht konsequent gegen die Gefahr des Terrorismus vorgehen. Während die USA seit 1945 mittels der Hitler-Schablone politische Konflikte zu lösen versuchen, neigen die meisten europäischen Staaten, abgesehen von Großbritannien, eher zur Gewaltlosigkeit. Frey tadelt beide Positionen, sofern sie versteinert und dogmatisch auftreten. Wer überall nur Hitler entdecke, „wird in unnötige blutige Konflikte hineingeraten, die möglicherweise genau jenen Kräften Vorschub leisten, die man bekämpfen will“. Andererseits dürfe niemand einer zur Gewalt entschlossenen Macht Kompromisse anbieten. Europa und die USA vertreten „grundsätzlich andere Weltanschauungen“. Sie beruhen, glaubt Frey, auf unterschiedlichen Interpretationen der Hitlerzeit. Deutschland orientiere sich pazifistisch. Bush aber erblickte hinter „9/11“ sogleich die Larve Hitlers. Der Kampf gegen Hitler stelle in den USA und Großbritannien ein „sinnstiftendes Moment“ dar. Die Amerikaner, schon immer stark religiös geprägt, teilen die Welt in Gut und Böse. Dieses schlichte Muster stand in Vietnam genauso Pate wie beim Irak-Krieg. Allerdings entschärfen die Briten das „Hitler-Syndrom“ dank traditioneller Nüchternheit. „Konfrontation und Diplomatie – keine dieser beiden Verhaltensweisen ist prinzipiell falsch.“ Frey untersucht viele Beispiele aus der Zeitgeschichte und empfiehlt, je nach Beschaffenheit des Gegners, eine flexible oder harte Taktik. Er differenziert zwischen „Raubtieren“ wie Saddam Hussein, die nur die Sprache der Waffen verstünden, und „Bienenschwärmen“, etwa nordirische Katholiken, die man nicht reizen dürfe. Die in den dreißiger Jahren gemachten Erfahrungen ließen sich nicht verallgemeinern. Das stimmt zwar, ähnelt aber verdächtig einer Binsenweisheit, die eigentlich zum politischen kleinen Einmaleins gehört. Und prägt das „Hitler-Syndrom“ tatsächlich die amerikanische Außenpolitik? Frey selbst konstatiert den manipulativen Effekt der Hitler-Beschwörung des George W. Bush. Schon dessen Vater, der Hussein mit Hitler verglich, habe „selbst nicht allzu sehr an seine Hitler-Rhetorik geglaubt“. Desto fragwürdiger erscheint Freys Versuch, Hitler als zentralen Schlüssel zu betrachten, der das Verständnis westlicher Diplomatie ermögliche. Auch die Unterstützung antidemokratischer Regime seitens der USA hat mit Hitler nichts zu tun. Frey sieht in der „liberalen Demokratie und Marktwirtschaft“ den allein richtigen globalen Maßstab. Deshalb bejaht er die „Befreiung Kuwaits“ und hält nur das Hitler-Klischee für unnötig. Die USA sollten im Irak bleiben, bis dort westliche Vorstellungen herrschen. Frankreich und Deutschland mögen ihre Reserviertheit ablegen und Truppen nach Bagdad entsenden. Offensichtlich verkennt der Autor die Möglichkeiten einer realistischen Außenpolitik. Eric Frey: Das Hitler-Syndrom. Über den Umgang mit dem Bösen in der Weltpolitik. Eichborn Verlag, Frankfurt 2005, 240 Seiten, gebunden, 19, 90 Euro