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„Die Mörder sind unter uns“

„Die Mörder sind unter uns“

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„Die Mörder sind unter uns“

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Die innerdeutsche Grenze, wie sie über vierzig Jahre bestand: eine leicht stilisierte romantische Herbstlandschaft. Keine Spur von Stacheldraht, Minenfeldern und Selbstschußanlagen. Wahrlich eine Idylle. Das suggeriert jedenfalls die Einbandgestaltung der broschierten Ausgabe, kreiert von einer Peperoni Werbeagentur aus Berlin. Schon die Aufmachung des Werkes entbehrt also nicht einer gewissen Würze.

Man kann Vorbehalte anmelden, wenn sich ehemalige DDR-Grenztruppenoffiziere auf fast 500 Seiten über "Geschichte, Fakten und Hintergründe" der deutsch-deutschen Grenze verbreiten. Schon der Einbandtext stellt die ohnehin von DDR-Nostalgie-Wellen und einschlägigen Geschichtsideologen arg strapazierte Leidensfähigkeit von DDR-Geschädigten auf eine harte Probe. Die Grenze – und damit ist offensichtlich deren Ausstattung gemeint – sei, weil Trennlinie zwischen zwei Paktsystemen, keine Angelegenheit der DDR gewesen. Zwar wurde geschossen, was es leicht mache, jene, die dort über ihre Unverletzlichkeit wachten, "zu kriminalisieren". Überhaupt seien über die Grenze Lügen und Legenden im Umlauf. Soviel vorweg: Die Arbeitsgemeinschaft 13. August des Museums Haus am Checkpoint Charlie in Berlin geht derzeit (letzter Stand vom August 2005) von insgesamt 1.135 Toten aus, die dem DDR-Grenzregime direkt und indirekt zum Opfer fielen.

Die Herausgeber Klaus-Dieter Baumgarten und Peter Freitag sind angetreten, das Publikum endlich mit der Wahrheit über dieses deutsch-deutsche Kapitel zu konfrontieren. Ihre Wahrheit zeichnet sich durch eine Geschlossenheit aus, die zuweilen frappierend ist. Das Autorenkollektiv argumentiert quasi DDR-systemimmanent – unfähig, sich objektiv und distanziert mit der Materie auseinanderzusetzen. Teilweise nimmt das Elaborat  schizophrene Züge an. Etwa dann, wenn behauptet wird, daß es humanistisches Anliegen der DDR war, "das Leben als höchstes Gut zu achten sowie menschliches Leid zu vermeiden", und im gleichen Atemzug versichert wird, daß man tiefe Betroffenheit und  Mitgefühl gegenüber Verwandten jener Personen empfinde, die beim Versuch eines illegalen Grenzübertritts Schaden an Leib und Gesundheit erlitten. Daß diese Verwandten oft erst nach 1990 von den Umständen der Ermordung ihrer Kinder, Geschwister oder Eltern erfuhren und viele nicht einmal ein Grab aufsuchen konnten, wird geflissentlich verschwiegen.

Die Autoren versuchen stets, die geopolitischen Auseinandersetzungen in der Zeit des "Kalten Krieges" in den Vordergrund zu rücken. Dieser wird nicht nur argumentativ als Entschuldigung für das menschenverachtende Grenzsystem herangezogen, sondern auch noch ideologisch mit marxistischer Terminologie aufgeladen: Schließlich stehe über allem die Auseinandersetzung zwischen Sozialismus und Kapitalismus. Semantisch erzeugt das eine Schieflage. Tatsache ist, daß mit Beginn der Sowjetherrschaft ein totalitäres System den offenen westlichen Gesellschaften gegenüberstand. Und nicht zu vergessen: Das kommunistische System war von Anfang an mit einem weltrevolutionären Anspruch angetreten. Ausgehend davon stand die DDR und ihr Grenzsystem historisch betrachtet zweifellos auf der falschen Seite, ebenso wie Minen, Panzersperren und Selbstschußanlagen auf der falschen Seite angebracht waren, nämlich "freundwärts", wie es in der Grenztruppenterminologie heißt.  

Wenn Generalmajor a. D. Hans-Wer-ner Deim sich über den 17. Juni ausläßt, erfährt der erstaunte Leser, daß es sich um einen "Anschlag auf die gesellschaftlichen Errungenschaften" handelte. Die Zehntausende Toten des NKWD-Terrors ("Speziallager") sowie die Opfer der stalinistischen Zwangskollektivierungen kann er kaum damit meinen. Und an Zynismus nicht zu überbieten ist die Behauptung, daß nach dem 17. Juni fast 2.500 Verhaftete "ordnungsgemäß" verurteilt wurden. Zu den  sicherheitspolitischen Maßnahmen gegen weitere imperialistische Provokationen gehörte natürlich auch die Gestaltung eines "wirksamen Grenzregimes".

Wenn Oberst a.D. Joachim Schunke die "Maßnahmen am 13. August 1961 zur Sicherung der Grenze" – die endgültige Bankrotterklärung des Systems – thematisiert, so glaubt man sich  in die Lektüre des SED-Blattes Neuen Deutschland jener Zeit versetzt: Selbstredend stand ein Nato-Militärschlag unmittelbar bevor. Aufschlußreich sind allerdings die Passagen, in denen geschildert wird, wie Ulbricht und Chruschtschow kaltschnäuzig das Risiko von Gegenmaßnahmen des Westens – sprich Krieg – in Kauf nehmen. Der Erhalt des Sowjet-Imperiums hatte absolute Priorität und die "systematisch vom Westen geförderte Republikflucht" stand dem entgegen. Und keineswegs entspreche es den Tatsachen, daß die erdrückende Mehrheit der DDR-Bevölkerung ihren Staat abgelehnt und nur unter dem Druck sowjetischer Panzer in diesem Unrechtsstaat gelebt hätte. Selbst während einer Belastungssituation, wie der 13. August sie darstellte, habe sich die Mehrheit ihrem Staat gegenüber loyal verhalten. Wie ein Aufbegehren nach dem 17. Juni 1953, dessen Niederschlagung dem Widerstandsgeist der Mitteldeutschen gewaltsam das Rückgrat gebrochen hatte, hätte aussehen sollen, bleibt allerdings Schunkes Geheimnis. Schließlich sollte es Jahrzehnte dauern, bis eine neue Generation und veränderte geopolitische Konstellationen einen aufrechten Gang und das Abschütteln der Diktatur ermöglichten.

Generaloberst a. D. Baumgarten persönlich vertieft die Problematik des Schießbefehls, über den in den Mauerschützenprozessen ausgiebig gestritten wurde. Ausgehend von der Erfahrung des deutschen Überfalls auf die Sowjetunion, die in ihrer westwärtigen Grenzsicherung ungenügend darauf vorbereitet gewesen sei, versucht Baumgarten die Minenfelder an der innerdeutschen Grenze zu legitimieren. Abgesehen davon, daß die Sowjets – wie vielfach belegt – Angriffsstellungen und keine Verteidigungsstellungen ausgebaut hatten: Hier werden eindeutig militärstrategische und politische Konstellationen der Jahre 1941 und 1961 unzulässig analog betrachtet. In aller Breite geht er auf schießwütige US-Soldaten und BGS-Beamte ein. Die Vergatterung der DDR-Grenzsoldaten zur Vernichtung von Grenzverletzern beziehe sich auf eine militärische Kategorie. So bedeute die Vernichtung nicht, daß diese getötet werden sollten. Es ging nur darum, Grenzverletzer handlungsunfähig zu machen. Das läßt die Frage offen, warum zumeist unbewaffnete Flüchtlinge, die keinen anderen Ausweg mehr sahen, als ihr Leben zu riskieren, von schwerbewaffneten Grenzern erschossen wurden. Die Mauerschützenprozesse brachten es zutage: Im wahrsten Sinn des Wortes bis zur Bewußtlosigkeit ist ihnen eingehämmert worden, was für furchtbare Verbrecher vor den Mündungen ihrer Kalaschnikows auftauchen würden. Trotzdem entspricht es übrigens nicht den Tatsachen, daß sie den Mauerstaat unfreiwillig bewachten. Wer erklärte, er würde nicht auf Flüchtlinge schießen, mußte den Job nicht machen. In der Regel passierte ihm auch nichts.

Der Fall Michael Gartenschläger ist Baumgarten fünf Zeilen wert. Gartenschläger hatte 1976 die grausamsten Installationen an der Grenze – die SM-70-Splitterminen – vor der Weltöffentlichkeit als Dumdum-Geschosse entlarvt, war nach zweifach gelungenem Abbau von einer Killertruppe der Stasi in einen Hinterhalt gelockt und – nachdem er angeblich das Feuer eröffnet hatte – kaltblütig erschossen worden. Tatortspuren wurden verwischt und das MfS verbreitete die Legende vom bewaffneten Angriff auf die Grenzsicherungskräfte der DDR.

Hier hatten höchste Stellen des MfS und der Grenztruppen ihre Finger im Spiel. Wie die meisten konkreten Todesfälle findet auch der Fall Willi Bock  keine Erwähnung. 1966 wird der junge Mann bei einem Fluchtversuch in Staaken gestellt, bekommt Sperrfeuer und verfängt sich hoffnungslos im Stacheldraht. Regimentskommandeur Bandemer eilt herbei, verfehlt ihn mit seiner Pistole, läßt sich eine Kalaschnikow reichen und feuert auf den in zwanzig Meter Entfernung am Boden liegenden jungen Mann. Nach dem kaltblütigen Mord soll er geäußert haben: "Da muß erst der Kommandeur kommen und zeigen, wie’s gemacht wird."

Bandemer wird wegen Totschlags "in minder schwerem Fall" verurteilt. Die Richter gehen von " vermeidbarem Verbotsirrtum" aus. Bald nach dem Urteil bescheinigt  man ihm  Haftunfähigkeit. Im Frühjahr 1997 sitzt er in Moabit auf der gleichen Anklagebank, auf der ein Jahr zuvor Mitherausgeber Baumgarten Platz nehmen mußte. Er wird wegen elffachen Totschlages zu sechseinhalb Jahren Freiheitsentzug verurteilt. Das Publikum pöbelt: "Klassenjustiz!" In die Fernsehkameras mokiert  er sich: "Ein politisches Urteil."

Baumgarten, dem Haftverschonung gewährt wird, nimmt als Vertreter ausgerechnet der Arbeitsgruppe "Frieden und Sicherheit" im Oktober des gleichen Jahres am Landesparteitag der brandenburgischen PDS teil. Öffentlich versichert der Bundesparteichef dem rechtskräftig verurteilten Totschläger seinen Respekt und seine Solidarität. Die PDS werde es nicht hinnehmen, daß Verantwortungsträger der DDR durch Strafgerichte kriminalisiert werden. Bei dem Mann mit dem bemerkenswerten Demokratieverständnis handelt es sich um keinen Geringeren als den Vorsitzenden der Linkspartei Lothar Bisky. 

"Die Mörder sind unter uns", der DEFA-Film von Wolfgang Staudte (1946) war sicher ein wichtiger erster Beitrag zur Aufarbeitung des Nationalsozialismus. Heute wäre der Titel wiederverwendbar. Nur daß die Mörder heute dreister sind. Das ist vielleicht der Unterschied.

Foto: Ehemalige Grenzanlagen in Hötensleben (Bördekreis): Minen und Selbstschußanlagen "freundwärts"

Klaus-Dieter Baumgarten, Peter Freitag (Hrsg.): Die Grenzen der DDR. Edition Ost, Berlin 2005, 447 Seiten, broschiert, 16,90 Euro

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