Noch immer nimmt die literaturwissenschaftliche Auseinandersetzung mit dem Jahrhundertthema "Flucht und Vertreibung", wenn sie denn in Vorlesungen und Seminaren überhaupt stattfindet, an deutschen Universitäten eine untergeordnete Stellung ein. Auch Anregungen aus der Auslandsgermanistik, die bei der Erschließung einer vergleichbaren Literaturströmung wie der literarischen Zeugnisse der Emigranten aus dem Dritten Reich noch erfolgreich war – genannt seien hier die drei internationalen Tagungen in Stockholm (1969), Kopenhagen (1972) und Wien (1975), vermochten gleiches in dieser Literatur nicht zu erreichen.
Gemeint ist die in den Vereinigten Staaten entstandene Habilitationsschrift des aus Schlesien stammenden Germanistikprofessors Louis Ferdinand Helbig (geboren 1935) "Der ungeheure Verlust. Flucht und Vertreibung in der deutschsprachigen Belletristik der Nachkriegszeit" von 1988, die seit 1996 in dritter und wesentlich erweiterter Auflage vorliegt. Der Titel beruht auf einem Zitat aus dem "Tagebuch 1946-1949" des Schweizer Schriftsteller Max Frisch, der am 24. August 1948 während einer Tagung im nunmehr polnisch gewordenen Breslau vermerkte, die Abtretung Schlesiens an Polen sei für Deutschland ein "ungeheurer Verlust". Leider löste diese verdienstvolle Studie keine nachfolgende Produktionsfülle aus, wie sie bei der Exilliteratur zu beobachten war.
Die Dissertationen zur literarischen Verarbeitung von Flucht und Vertreibung lassen sich an zehn Fingern aufzählen, worunter allein vier polnische in deutscher Sprache zu finden sind, von den deutschen seien die von Wolfgang Schneiß "Flucht, Vertreibung und verlorene Heimat im früheren Ostdeutschland. Beispiele literarischer Betrachtung" aus dem Jahr 1996 und von Kirsti Dubeck "Heimat Schlesien nach 1945. Eine Analyse deutscher, polnischer und tschechischer Prosatexte" (2003) genannt.
Während die an der Indiana University in Bloomington verfaßte Arbeit Louis Ferdinand Helbigs aber auf lediglich 270 Einzelwerken basiert, werden nun in einer beispiellos umfassenden Bibliographie zu "Flucht und Vertreibung in Prosaliteratur und Erlebnisbericht seit 1945" etwa 2.000 Einzeltitel und 87 Anthologien genannt, wobei sich der Erfassungszeitraum vom Kriegsende 1945 bis zum Sommer 2005, also auf sechs Jahrzehnte erstreckt.
Das Buch ist eine Meisterleistung Axel Dornemanns, des Leiters des Stuttgarter Anton-Hiersemann-Verlags, der 1990/91 auch als Redakteur in der Bonner Stiftung Ostdeutscher Kulturrat gearbeitet hat. Er wurde 1951 in Osterode im Harz als Sohn einer Schlesierin geboren, hat in Heidelberg Germanistik und Slawistik studiert, seine Dissertation über Leo N. Tolstoj und Franz Kafka erschien 1982.
Das Buch ist klar und übersichtlich gegliedert und bietet selbst dem Kenner dieser Literaturströmung noch eine Fülle von Entdeckungen. In der Einleitung seiner "annotierten Bibliographie", die auf der Innenseite der beiden Buchdeckel mit farbigen Landkarten ausgestattet ist, beschreibt der Verfasser unter dem Titel "Schreiben über Flucht und Vertreibung" die widersprüchliche und langwierige Entstehung dieser Literatur, auch wenn erste Niederschriften schon für das Jahr 1945 nachweisbar sind. In den neun Jahren 1951/60 war dann mit 130 Titeln ein jähes Ansteigen der literarischen Produktion zu verzeichnen, die zehn Jahre später fast wieder verebbte – eine "auffällige Veröffentlichungsflaute", wofür der "politisch-historische Zeitgeist der Ostverträge" verantwortlich gemacht wird.
Aber zu keiner Zeit war der Literaturstrom versiegt oder abgestorben, so daß es völlig unverständlich ist, wie Frank Schirrmacher noch 1998 in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung solche Sätze schreiben konnte: "Es gibt bis heute keine literarische Verarbeitung der Vertreibung; die Literatur weiß nichts von den Okkupationsjahren des Ostens durch die Rote Armee. Die letzten lebenden Zeugen all der für immer unerzählt bleibenden Geschichten aus den ostdeutschen Provinzen treten jetzt ab. All das ist unerzählt, also: unerlöst."
Im dritten Abschnitt der Einleitung "Flucht und Vertreibung in der literaturwissenschaftlichen Forschung" nennt Axel Dornemann die wenigen Werke, die der wissenschaftlichen Auseinandersetzung mit dem Jahrhundertthema gewidmet sind: Außer den bereits genannten gibt es noch das Sonderheft der Kulturpolitischen Korrespondenz vom 20. Mai 1985 "Flucht und Vertreibung als literarisches Thema" und die Aufsatzsammlungen von Frank Lothar Kroll "Flucht und Vertreibung in der Literatur nach 1945" (1997), von Sascha Feuchert "Flucht und Vertreibung in der deutschen Literatur. Beiträge" (2001) und von Elke Mehnert "Landschaften der Erinnerung. Flucht und Vertreibung aus deutscher, polnischer und tschechischer Sicht" (2001). Das Sonderheft der Kulturpolitischen Korrespondenz vom 15. August 1995 "Verlorenes Leben, verdrängte Geschichte. Ostdeutsche Autoren in Mitteldeutschland (1945-1995)", das immerhin 112 Seiten stark ist, wird hier leider nicht erwähnt. Alles in allem: eine fürwahr dürftige Ausbeute nach sechzig Jahren.
Im vierten Abschnitt schließlich werden die Auswahlkriterien benannt, nach welchen die einzelnen Bücher in die Bibliographie aufgenommen wurden. Hier wird man mit dem Autor streiten müssen, warum er zum Beispiel Renate Feyls Roman "Ausharren im Paradies" (1992) über das Schicksal einer sudetendeutschen Familie ausschließt, die nach dem Zweiten Weltkrieg in Jena und Ostberlin seßhaft, aber nicht heimisch wurde. Denn die 1951 erfolgte Aussiedlung, wie die Deutschen aus Böhmen und Mähren die Vertreibung nennen, bleibt, auch wenn keine Einzelheiten genannt werden, als biographischer Hintergrund der Hauptfigur Franz Kogler allgegenwärtig. Die Aufnahme des Schlesiers Arno Schmidt (1914-1979), den man hier nicht vermutet hätte, überrascht, in drei Prosatexten immerhin hat er sich mit der Thematik auseinandergesetzt. Verwundert ist man dann wieder darüber, daß Arno Surminskis Roman "Vaterland ohne Väter" (2004) fehlt. Es geht hier um ostpreußisches Kriegsschicksal allgemein, worin der Heimatverlust und damit die Sehnsucht der als Rentnerin in Bremen lebenden Tochter, die ihren gefallenen Vater nie kennenlernen durfte, eingeschlossen ist.
Nützlich weiterhin in diesem Abschnitt ist die Nennung und historische Einordnung der einzelnen Vertreibungsgebiete, das dürftige Geschichtswissen heutiger Deutscher macht das dringend notwendig. Leider fehlen hier die Deutschbalten, die Deutschen in der Slowakei, in Jugoslawien, Ungarn, Rumänien und vor allem die Rußlanddeutschen. Um ein Beispiel zu nennen: Siegfried von Vegesacks Romantrilogie "Die baltische Tragödie" (1935) über den Untergang der deutschen Volksgruppe wäre hier unabdingbar.
Genausowenig vermag der Abschnitt über Erzählformen zu überzeugen, unter denen der Autor Prosaliteratur, Autobiographien, Reiseberichte und Erlebnisberichte versteht. Prosaliteratur wäre hier zu unterscheiden gewesen von lyrischer und dramatischer Literatur, die aber beide in der Bibliographie ausgeklammert werden, obwohl zum Beispiel der DDR-Schriftsteller Heiner Müller in seinem Stück "Die Umsiedlerin oder Das Leben auf dem Lande" (1961), geschrieben nach der Anna-Seghers-Erzählung "Die Umsiedlerin" (1953), dieses Thema aufgreift. Der Begriff "Prosaliteratur" meint hier, und das hätte erklärt werden müssen, Romane und Erzählungen, also fiktive und nicht authentische Literatur, denn in Prosa sind auch Autobiographien und Reiseberichte geschrieben.
Die eigentliche Bibliographie, die Anführung also von Autorennamen und Werken, umfaßt samt Nachträgen in diesem Buch 250 Seiten, mit den 87 Sammelwerken und Anthologien sind es sogar 264 Seiten. Eine beachtliche Leistung, die Dornemann mühsame Arbeit in Archiven und Bibliotheken gekostet hat und der man hohe Anerkennung zollen muß. Außerordentlich nützlich ist auch das "Register nach Vertreibungsgebieten", weil man hier sofort überblickt, wer von den Ostpreußen oder Schlesiern über dieses Thema geschrieben hat. Das "Register nach Erzählformen" wiederum ist überflüssig, danach fragt der Benutzer kaum, wenn er sich auf diese Thematik einläßt.
In der Übersicht zur DDR-Literatur werden 43 Buchtitel genannt, eine beachtliche Zahl, die dem in der Einleitung geäußerten Diktum widerspricht, im SED-Staat sei über dieses Thema "Schweigen verordnet" gewesen. Man konnte durchaus darüber schreiben, wenn man den Verlust der deutschen Ostprovinzen als unausweichliche Folge eines imperialistischen Angriffskrieges darstellte , der 1939/45 von Deutschland geführt wurde, und wenn man sich an den politisch-ideologischen Rahmen hielt, der für Literatur vorgegeben war. Die ersten Bücher erschienen auch noch vor DDR-Gründung am 7. Oktober 1949, so die beiden Romane von Maria Langner "Die letzte Bastion" (1948), leider hier nicht genannt, und von Annemarie Reinhard "Treibgut" (1949).
Auch andere Autoren fehlen: Boris Djacenko (1917-1975), der als in Ost-Berlin lebender Lette DDR-Literatur schrieb wie den zweibändigen Roman "Herz und Asche" über den Einmarsch der Roten Armee in Deutschland 1945. Während der erste Band 1954 erscheinen konnte und als proletarischer Widerstandsroman gefeiert wurde, durfte die Fortsetzung 1958 nicht in Buchform veröffentlicht werden, sondern wurde noch in der Druckerei eingestampft. Der Grund dafür war, wie 1977 bei Werner Heiduczek, die Schilderung grausamer Vergewaltigungsszenen, die der Autor nicht hatte aussparen wollen.
Der Ostpreuße Karl-Heinz Jakobs, auch er DDR-Autor, veröffentlichte 1983 in einem westdeutschen Verlag den Band "Das endlose Jahr", der ihm in Ost-Berlin viel Ärger einbrachte: In einem Kapitel beschrieb er eine von Litauen aus unternommene Reise zur Kurischen Nehrung, der Landschaft seiner Kindheit.
Auch bei den Autoren, die nach 1945 in Westdeutschland über Flucht und Vertreibung schrieben, kann man in dieser bibliographischen Fundgrube die merkwürdigsten Entdeckungen machen. Da sind einmal die Politiker Heinrich Albertz (1914-1993), Walter Becher (1912-2005), Linus Kather (1893-1983), Paul Löbe (1875-1967), Erich Mende (1916-1998) und Harry Ristock (1928-1992), die das Thema in ihren Lebenserinnerungen berühren. Daß der mittlerweile neunzigjährige Herbert Hupka mit seiner Autobiographie "Unruhiges Gewissen" (1994) hier fehlt, ist unverständlich.
Selbst die autochthonen Autoren Westdeutschlands, die Flucht und Vertreibung nicht erlebt haben, vielleicht auch nie in Ostdeutschland gewesen sind, haben sich des Themas immer wieder angenommen. Der längst vergessene Württemberger Gerd Gaiser (1908-1976) beispielsweise hat eine Erzählung "Die schlesische Gräfin" (1956) veröffentlicht. Auch von dem Oberbayern Hans Carossa (1878-1976) hätte man keine Auseinandersetzung mit diesem Thema aus dem gleichen Jahr erwartet. Und auch die Rheinhessin Elisabeth Langgässer (1899-1950), die als "Halbjüdin" 1936 mit Schreibverbot belegt worden war und deren Roman "Das unauslöschliche Siegel" (1946) höchsten Ansprüchen genügt, veröffentlichte 1947 eine Erzählung über eine Flucht aus Ostpreußen. Ähnliche Entdeckungen macht man bei Wolfdietrich Schnurre (1920-1989) und Alexander Kluge (geboren 1932). Die Aufzählung ließe sich fortsetzen. Mit einem Wort: Es ist beglückend, heute zu sehen, wie tief das Unrechtsbewußtsein über das Geschehene in westdeutscher Literatur und Leserschaft verankert war.
Eine weitere, nicht zu unterschätzende Autorengruppe bilden fünf ausländische Autoren, deren ältester, der ukrainische Jude Lew Kopelew (1912-1997), als Offizier der Roten Armee den Einmarsch in Ostpreußen miterlebt hat, wegen "Mitleids mit dem Feind" für zehn Jahre im Straflager verschwand und darüber in seinen Lebenserinnerungen "Aufbewahren für alle Zeit" (1976) berichtet. Ein hierzulande fast unbekannter Tscheche, Bohumil Hrabal (1914-1997), erzählt in seinem Roman "Ich habe den englischen König bedient" (1988) auch von den nach 1945 verwüsteten Dörfern im Sudetenland. Zwei weitere zeitgenössische Tschechen, Pavel Kohout und Ota Filip, schreiben in Reiseberichten und Romanen vom Untergang der Deutschen in Böhmen und Mähren. Und der Schwede Per Landin, der 1995 in Erfurt mit dem Medienpreis der Stiftung Ostdeutscher Kulturrat ausgezeichnet wurde, war "auf Spurensuche im ehemaligen Ostpreußen".
Auch die Literatur über die Hunderttausende vergewaltigter und aus Ostdeutschland auf Jahre verschleppter Frauen ist in diese Anthologie aufgenommen: die Ostbrandenburgerin Eva-Maria Stege beispielsweise mit ihren Aufzeichnungen "Bald nach Hause – Skoro domoi" (1991) und die Ostpreußin Hildegard Rauschenbach mit ihrem Lagerbuch "Von Pillkallen nach Schadrinsk" (1993) oder Freya Kliers rühmenswerte Sammlung "Verschleppt ans Ende der Welt. Schicksale deutscher Frauen in sowjetischen Arbeitslagern" (1996).
Man blättert in diesem aufregenden Buch und fragt sich, ob der schier endlose Strom der Erinnerungsliteratur nicht eines Tages doch versiegen könnte. Aber das scheint nur so. Nach der Drucklegung sind die Erinnerungen des Egerländers Peter Glotz (1939-2005) "Von Heimat zu Heimat" erschienen und die des Oberschlesiers Werner Heiduczek (1926) "Die Schatten meiner Toten". Daß der in Rostock geborene Walter Kempowski in "Das Echolot", seinem vierbändigen "kollektiven Tagebuch", Flucht und Vertreibung auf Hunderten von Seiten dokumentiert, erfüllt ebenso mit Hoffnung wie eine Enkelgeneration von Autoren wie der 1968 geborenen Tanja Dückers, die in ihrem Roman "Himmelskörper" (2003) ostdeutsche Erinnerungen der Großeltern aufarbeitet.
Erika Durban: "Ein Kind überlebte", Kreide 1985: Die literaturwissenschaftliche Auseinandersetzung mit Flucht und Vertreibung nimmt an deutschen Universitäten eine untergeordnete Stellung ein
Axel Dornemann: Flucht und Vertreibung in Prosaliteratur und Erlebnisbericht seit 1945. Eine annotierte Bibliographie. Reihe "Bibliographische Handbücher", Band 17. Verlag Anton Hiersemann, Stuttgart 2005, 376 Seiten, bis 31. Januar 2006: 198 Euro, danach 230 Euro