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Die alte Vision von der geplanten Gesellschaft

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Die „Vergangenheitsbewältigung“ gehört zu jenen deutschen Wortungetümen, die bereits Einzug in fremde Sprachen – so auch ins Englische – gefunden haben. Der amerikanische Politikwissenschaftler Paul Edward Gottfried, als Sohn österreichisch-jüdischer Emigranten dem alten Kontinent kulturell und sprachlich verbunden, setzt sich kritisch mit dem bundesdeutschen „Kult der Schuld“ auseinander, der weit über die Grenzen hinweg als vorbildlich gilt. Gottfrieds Thema ist der „Verwaltungsstaat“, der – anders als der klassisch liberale Staat – das Sozialverhalten der Bürger nach Maßgabe der „political correctness“ zu verändern sucht. Das Volk ist nicht mehr demokratischer Souverän, also Subjekt, sondern aus Sicht der Administratoren der Massendemokratie bloßes Objekt, genauer gesagt: ein Resozialisierungsobjekt, dessen „Vorurteile“ es wie Krankheiten zu heilen gilt. Gottfrieds Studie analysiert Mechanismen der Manipulation im westlichen „liberalen“ Verwaltungsregime, das er mit der Terminologie von Thomas Szasz auch als „therapeutischen Staat“ klassifiziert. Der angestammten Mehrheitsbevölkerung werden Scham- und Schuldgefühle für tatsächliche oder vermeintliche historische Untaten eingepflanzt, so Gottfrieds Grundthese, um Widerstände gegen die multikulturelle Transformation ihrer Heimat zu ersticken. 1989 hörte man Jubelschreie neokonservativer Intellektueller, die den Sozialismus als „tot“ ansahen und ein liberaldemokratisches „Ende der Geschichte“ ausriefen. Gottfried mißtraut diesen Schönrednern. Zum einen sieht er, wie enorm hoch nach wie vor der Staatsanteil an den westlichen Volkswirtschaften ist, deren extensive Wohlfahrtsprogramme nicht allein der sozialen Absicherung der Bevölkerung dienen, sondern auch Spielraum für „social engineering“ lassen. Hat sich die Linke von ihren ehemaligen Forderungen der Verstaatlichung von Schlüsselindustrien verabschiedet, so jedoch nicht vom alten Traum einer geplanten Gesellschaft. Gottfried zitiert einen sozialdemokratischen Vordenker aus Schweden, der 1967 erklärte: „Die staatlichen Behörden sollen die Gesellschaft so verändern, daß es für die Massen möglich wird, das Gefühl der Freiheit zu empfinden.“ Mit Hilfe staatlichen Zwangs sollen die sozialen Verhältnisse so modelliert werden, „daß alle die gleichen Chancen erhalten, die in ihnen liegenden Fähigkeiten zu entwickeln und am Gefühl der Freiheit teilzuhaben“. Die neue Sozialtechnik ist unendlich subtiler als der frühere Brachialsozialismus. Soziale Kontrolle kann es auch ohne Vergesellschaftung der Produktionsmittel geben, hat die postkommunistische Linke erkannt. Gottfried beschreibt, wie nun „social engineering“ von den herrschenden spätmodernen und postliberalen Regimes eingesetzt wird, um Individuen, die sich in den Augen der Administratoren noch nicht „verwirklicht“ haben, zu stärken oder um Gruppen zu fördern, die angeblich einer kollektiven Unterstützung bedürfen. Letzteres betrifft in erster Linie die tatsächlichen oder vermeintlichen Opfer der traditionell orientierten Gesellschaft. Gemäß dieser „Viktimologie“ sind es besonders Vertreter unkonventioneller Lebensstile, homosexueller Orientierung sowie Einwanderer aus der Dritten Welt, die als systematisch „diskriminierte“ Minderheiten eine Vorzugsbehandlung verdienen. Der Verwaltungsstaat beruft sich auf die Leiden der angeblich Benachteiligten, um einen Kampf gegen die traditionellen Moralvorstellungen der Mehrheitsgesellschaft, ihre „Vorurteile“, zu führen. Traditionelle Familienformen löst der Wohlfahrtsstaat auf und schafft sich eine Klientel atomisierter, abhängiger Individuen. Die Folge ist eine Kultur- und Moralrevolution, die aber nicht von subversiven Gruppen, etwa den Intellektuellen, ausgeht, wie viele Konservative stets glaubten, sondern zentrales Projekt des therapeutischen Verwaltungsstaats ist, behauptet Gottfried. Als Instrumente des revolutionären „social engineering“ dienen Wohlfahrtsprogramme für ausgesuchte Minderheiten und „Opfer“-Gruppen, in den USA besonders „affirmative action“, außerdem auch Antidiskriminierungsgesetze, die traditionelle liberale Grundfreiheiten aushebeln und durch Gesinnungskontrolle ersetzen. So aufregend und plausibel all seine Befunde sind, so problematisch erscheint Gottfrieds Erklärung der „religiösen Grundlagen“ dieser Politik. Gottfried meint die Ursprünge des „Kults der Schuld“ in den Wahnvorstellungen eines deformierten Protestantismus zu entdecken. Sicher ist es richtig, daß gewisse protestantische Sekten die sündhafte Disposition des Menschen betonten, eine penetrante Büßerattitüde an den Tag legten und durch ewige Schuldbekenntnisse Erlösung anstrebten. Man mag hier Parallelen zum aktuellen „Kult der Schuld“ und der Vergangenheitsbewältigung sehen. Ob dabei aber Reste einer frühcalvinistischen Prägung wirken, wo doch der Westen so durchgängig säkularisiert ist? Unzweifelhaft jedoch trägt die Ideologie der „political correctness“ semi-religiöse Züge – man denke an den inquisitorischen Eifer, mit dem Abweichler verfolgt und regelrechten Exorzismen unterworfen werden. Gottfrieds Studie enthält eine Vielzahl origineller An- und Einsichten. Leider zieht sich die Argumentation oft mäandernd, manchmal sprunghaft dahin und umkreist den Gegenstand eher, als daß sie ihn gezielt aufspießt. Mehr Mut zu klaren Definitionen, eine striktere Gliederung der Thesen und weniger Redundanz hätten gutgetan. So verliert sich der Leser im Dickicht immer neuer Lesefrüchte und Beispiele für eine multikulturelle „Politik der Schuld“ in Amerika wie Europa. Deren Umrisse werden zwar sichtbar, Gottfried zeigt jedoch keinen Angriffspunkt, wie die Fahrt in den manipulativen Staat zu stoppen wäre. Foto: Bemalte Fassade in Chinatown, San Francisco: Mit staatlichem Zwang soziale Verhältnisse modellieren Paul Edward Gottfried: Multikulturalismus und die Politik der Schuld. Unterwegs zum manipulativen Staat? Ares Verlag, Graz 2004, 222 Seiten, gebunden, 19,90 Euro

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